LID: Wieso braucht Agroscope diese massive Reorganisation?

Alfred Buess: Die ganze Übung startete als Sparauftrag im Rahmen der strukturellen Reformen des Bundesrates. Es gab kritische Stimmen, die fragten, ob es Agroscope überhaupt noch brauche. Denn im Gesetz steht, dass eine Ressortforschungsanstalt aufgelöst werden kann, wenn sie nicht mehr nötig ist oder wenn man dieselbe Leistung anderswo günstiger beziehen kann. Das ist keine Angstmache. Solche Ideen schwebten herum. Bundesrat Johann Schneider-Ammann war mit solchen Ideen überhaupt nicht einverstanden und entschied sich mit dem Zukunftsprojekt für Agroscope in die Offensive zu gehen. Dies ist ein gröberes Unterfangen, das nicht nur eine Sparübung ist, sondern Agroscope neu positionieren soll, um die Diskussionen um die Daseinsberechtigung zu beenden und um eine solide Grundlage für die Zukunft zu schaffen.

Waren die praktisch ausschliesslich negativen Reaktionen eine Überraschung für Sie?

Nein, ich war gar nicht überrascht. Als ich erstmals von der Konzentration auf einen Standort hörte, war meine erste Reaktion: Das ist ein Himmelfahrtskommando. Zunächst hatte ich die Vermutung, dass das Endziel gar nicht ein Standort ist. Sondern dass man weit zielt, um ein Stück vorwärts zu kommen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass dem nicht so ist. Und als ich mich mit den Argumenten beschäftigte, sah ich, dass diese überzeugen. Es gibt auf der einen Seite die finanzpolitische Betrachtung. Wenn man von einem 190-Millionen-Budget 40 Millionen für die Infrastruktur braucht, dann ist das disproportional. Hier muss man etwas ändern. Andererseits sind die Standorte geschichtlich gesehen aus regionalpolitischen und nicht aus forschungspolitischen Überlegungen entstanden. Wir müssen mit dem vorhandenen Geld die beste Forschungsleistung erzielen und sollten dieses nicht in Mauern und den Erhalt des Bisherigen investieren.

Und das gelingt mit der geplanten Reorganisation?

Je tiefer ich in die Materie eintauche, umso stärker sehe ich, dass die Massnahmen nötig sind. In einer historisch gewachsenen Organisation gibt es immer gewisse Strukturen und Verhaltensmuster, die hinterfragt und aufgebrochen werden müssen. Das ist bei Agroscope nicht anders. Agroscope hat in der Vergangenheit gute Leistungen erbracht, hat aber als langjährig nicht in Frage gestellte Institution ein gewisses Eigenleben entwickelt. Agroscope ist wie ein grosser Ozeandampfer, der seinen Weg geht. Die in der Vergangenheit vorgenommenen Kurskorrekturen betrugen jeweils ein paar wenige Grad. Das reicht nicht mehr. Ich bin überzeugt, dass es auch ohne Sparauftrag wichtige Gründe gäbe, die Standorte zu konzentrieren. Für mich ist klar, dass auch aus der Optik des Leistungsportfolios der Standortentscheid richtig ist.

Um die Effizienz zu steigern?

Ja. Und vor allem, um die Systemwirkung zu verbessern. Zum Vergleich ein Beispiel: Die Fachhochschulen haben vor 15 Jahren den Auftrag erhalten, Forschung zu betreiben. Damals gab es rund 37 über die Schweiz verteilte Standorte. Heute haben praktisch alle Fachhochschulen einen zentralen Campus. Nicht aus Prestigegründen, sondern weil Innovation vorwiegend an der Schnittstelle passiert, wo verschiedene Disziplinen zusammenkommen.

Gibt es Befürworter der Einstandort-Strategie?

Es gibt in der Branche Fürsprecher der Konzentration. Interessanterweise jene, bei denen Agroscope am nächsten bei der Basis ist, etwa bei den Gemüse- und Obstproduzenten. Ihnen ist der Standort nicht wichtig, sondern die Leistungen von Agroscope zählen. Und das Konzept mit einem zentralen Standort und den dezentralen Satelliten ist für diese Branchen überzeugend.

Ihnen würde es helfen, wenn diese Branchen diese Argumente in der Öffentlichkeit vertreten würden.

Absolut. Die Branchen sind aber in einer Zwickmühle. Wenn sie sich zu stark aus dem Fenster lehnen, kriegen sie Probleme.

Es gibt die Befürchtung, dass Mitarbeitende von Agroscope bei einem Umzug nach Posieux die Forschungsanstalt verlassen würden.

Ja, diese Angst ist vorhanden. Es gibt aber Beispiele von solchen Reorganisationen, die gut gelungen sind. Insbesondere wenn sie über einen langen Zeitraum verlaufen. So wie bei Agroscope, wo der Konzentration ein 10-Jahres-Plan zugrunde liegt.

Viele Kritiker befürchten einen Abbau der Forschung, wenn die Standorte konzentriert werden und sonst nur Satelliten-Stationen existieren. Sie sehen das anders.

Ich zeige es an Beispielen. Aktuell ist Agroscope in Güttingen im Kanton Thurgau mit Obstanlagen und Infrastruktur vertreten. Das ist ein typisches Beispiel eines Satelliten. So etwas wird nicht in Frage gestellt. Oder Cadenazzo im Tessin. Dort braucht es vielleicht ein halbes Dutzend Leute, die permanent dort sind und andere kommen dazu, je nachdem was gerade läuft. Cadenazzo ist auch deshalb ein gutes Beispiel, weil es mit der WSL und Agridea zusammen betrieben wird und so Synergien genutzt werden. Oder das Beispiel Breitenhof. Dieser ist zentral für die Baselbieter Obstbauern. Er ist ein Kristallisationspunkt mit starker Ausstrahlung. Wieso sollte man sowas in Frage stellen?

Die Landwirtschaft ist standortgebunden. Muss die Forschung folglich nicht auch dezentral erfolgen?

Man muss sich die Frage stellen, welche Forschung Agroscope betreiben soll. Wenn es um Implementierung – ums Testen, Umsetzen und Anwenden geht – braucht es regionsnahe Präsenz. Aber das machen heute schon zu einem bedeutenden Teil regionale Player wie beispielsweise der Strickhof, der Plantahof oder das Inforama. Agroscope muss im Gesamtsystem seinen Platz finden. Wichtig ist, dass Agroscope keine Forschung betreibt, die schon anderswo gemacht wird. Es muss klar sein, welche spezifischen Leistungen Agroscope erbringen kann, die sonst niemand bietet. Agroscope kann vieles, was andere nicht leisten können. Beispielsweise Projekte von langer Dauer oder solche, die viel Infrastruktur benötigen. Dazu haben die Fachhochschulen die Mittel nicht. Sie müssen hauptsächlich nach der Pfeife der Drittmittel tanzen. Agroscope mit der hohen Eigenfinanzierung durch den Bund kann Dinge anpacken, die andere nicht stemmen können.

Welche Leistungen sind das?

Ein bedeutender Teil davon ist Systemforschung, bei der man die verschiedensten Disziplinen miteinander kombinieren muss: Klimafragen, der Pflanzenschutz, die Bodendegradation oder der Biodiversitätsverlust. Bei all diesen Themen müssen verschiedene Spezialisten eng zusammenarbeiten. Da ist es hilfreich, wenn die Büros nahe sind und man auch regelmässig zusammen einen Kaffee trinken kann. Dort werden die Ideen entwickelt, die vielleicht nicht unbedingt auf der Hand liegen. Diese Qualitäten muss Agroscope ausspielen. Die Implementierung – das kann dann dezentral gemacht werden.

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Institutionen in der Forschung?

Das ist ein wichtiger Punkt. Ein aktuelles Beispiel ist AgroVet Strickhof. Dort ist heute das Zentrum für die Forschung im Bereich Rindvieh, bedeutender als Agroscope. Der Strickhof, die Universität Zürich und die ETH arbeiten mit verschiedenen Spezialisten am selben Ort. So kann man Systemforschung betreiben. Nicht alle LBBZ können eine komplementäre Funktion zu Agroscope übernehmen. Aber viele könnten es und wären wahrscheinlich sogar dankbar, wenn sie enger zusammenarbeiten könnten.

Wie weit ist die Diskussion über die künftige Aufgabe von Agroscope fortgeschritten?

Bei der Definition des Leistungsportfolios steht noch viel Arbeit vor uns. Wir haben eine grobe Ahnung und Grundsätze. Was Agroscope aus- oder abbauen oder sogar eliminieren soll, ist noch nicht geklärt. Wenn es um die Konkretisierung geht, braucht es auch Absprachen mit anderen Akteuren in der Forschung. Es geht darum, dass Agroscope eine einzigartige Rolle spielt, dabei aber eng mit anderen zusammenarbeitet und sich komplementär positioniert. Nicht nur in der Schweiz, auch international. Es gibt Stimmen, die sagen, wir brauchen Agrarforschung in der Schweiz gar nicht mehr. Wir könnten alles von Bayern, Holland oder aus dem Südtirol holen. Aber das klappt nicht. Wenn man nichts zu bieten hat, kriegt man auch nichts. Ausserdem braucht es oftmals eine Helvetisierung gewisser Forschungsergebnisse. Auch das ist eine Aufgabe, die Agroscope erfüllen muss. Aber man muss nicht nochmals machen, was die Nachbarländer schon gemacht haben. Laut heutigem Fahrplan sollte im 1. Quartal 2019 Klarheit bezüglich Leistungsportfolio herrschen.

Die Ostschweizer Regierungskonferenz geht davon aus, dass die Vernetzung mit Bayern, Baden-Württemberg oder Vorarlberg gefährdet oder geschwächt wird, wenn die Ostschweizer Standorte schliessen.

Das scheint mir eine Schutzbehauptung zu sein. Forschung passiert nicht so regional oder lokal. Die fähigen Leute arbeiten auch mit Matforsk in Norwegen, mit der INRA in Montpellier oder mit der Universität Wageningen zusammen. Dafür ist man nicht auf regionale Standorte angewiesen. Das könnte von Posieux aus genauso gut stattfinden.

Sie erarbeiten das Portfolio. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Ich nenne spontan ein Beispiel: Wir haben in der Schweiz ein massives Manko bei der Agrarökonomie. Dieser Themenbereich wird zwar an der ETH beforscht, aber mit einem globalen Fokus. Die HAFL hat wenig Ressourcen für die Forschung. Als Ressortforschungsinstitution hat Agroscope eine wichtige Mission in der Politikunterstützung und der Vorbereitung von politischen Entscheiden. Diese Entscheide sind oft ökonomischer Natur. Agrarökonomie ist bei Agroscope nicht nur ausbauwürdig, es ist vielmehr zwingend, dass ein Ausbau erfolgt. Die andere Frage ist, ob man die nötigen Fachleute findet. Gute Agrarökonomen sind rar.

Die Digitalisierung und die Landwirtschaft 4.0 sind derzeit ein dominierendes Thema.

Die Digitalisierung erachte ich als ebenso wichtig. Ich sehe Agroscope nicht in der Rolle als Entwickler von Sensoren, das tut die Industrie. Es geht vielmehr darum abzuklären, welche Technologien unter Schweizer Verhältnissen sinnvoll genutzt werden können. Zum Beispiel, um den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren. Oder welche neuen Produkte für die Schweizer Bäuerinnen und Bauern ökonomisch und arbeitsphysiologisch vorteilhaft sind. In solchen Bereichen könnte Agroscope eine dominierende Rolle spielen.

Was soll Agroscope nicht mehr tun?

Diese Frage ist schwierig. Dazu will ich im Moment nichts sagen, es wäre unseriös und auch brisant. Das aktuelle Arbeitsprogramm von Agroscope, welches 17 strategische Forschungsfelder umfasst, ist nicht in Frage gestellt. Es wird aber alljährlich überprüft, ob Anpassungen nötig seien. In den von uns geführten Interviews wurde eine Sache oftmals erwähnt: Die Pferde sind ein Fremdkörper bei Agroscope. Aber die kuriose Situation ist, dass laut Landwirtschaftsgesetz der Bund landwirtschaftliche Forschungsanstalten betreiben kann, aber ein Gestüt führen muss. Das Gestüt ist also nicht verhandelbar.

Wo steht die Schweizer Forschung im Landwirtschaftsbereich im internationalen Vergleich?

Das grosse Plus der Schweizer Agrarforschung ist, dass sie noch wenig beeinflusst ist von kommerziellen Interessen. Wenn man die Situation beispielsweise mit den USA oder mit den Niederlanden vergleicht - dort herrschen ganz andere Verhältnisse. Die Universität Wageningen sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, von der starken Agrarexportlobby unterlaufen zu sein. Solche Probleme gibt es in der Schweiz derzeit nicht. Agroscope hat bisher in den EU-Kooperationsprojekten auch deshalb recht gute Erfolgsquoten, weil sie von ausländischen Partnern als kompetent und unabhängig wahrgenommen wird.

Wo ist Agroscope besonders stark?

Es gibt einige Bereiche. Spontan fällt mir das Thema Klimawirkungen von und in der Landwirtschaft ein. Da hat Agroscope bisher europaweit ein hohes Renommee gehabt. Der Forschungsleiter dieses Bereichs – er ist nun pensioniert - war eine Kapazität auf diesem Gebiet.

Gibt es weitere Bereiche, wo Agroscope führend ist?

Die Forschung zu Pflanzenschutzstrategien, die Bodenforschung und die Projekte zu Anbausystemen sind weitere Beispiele. Es muss das Ziel der Portfolio-Überprüfung sein, dass Agroscope in mehreren Bereichen führend ist. Deshalb muss sich Agroscope auf Forschungsbereiche mit Alleinstellungscharakter konzentrieren. Das Leistungsportfolio muss so gestaltet sein, dass Topleistungen für die Schweizer Landwirtschaft resultieren, dass sich aber auch das Renommee von Agroscope weiter verbessert. Dies ist nötig, damit Agroscope ein attraktiver Arbeitgeber ist. Derzeit ist es für Agroscope nicht einfach, die besten Leute zu rekrutieren. Die Reputation muss zukünftig wieder so hoch sein, dass Agroscope auf dem Stellenmarkt die erste Adresse ist.

Ist ein Grund für die schwierige Rekrutierung nicht auch, dass es zuletzt immer wieder Reorganisationen gab?

Das spielt sicher eine Rolle. Es ist in meinen Augen ein trauriges Kapitel, dass diese Reorganisationen immer Abbauübungen waren. Konkret hiess es: Jetzt haben wir wieder 5 Millionen weniger, wir ersetzen folglich die Leute nicht mehr, die gerade pensioniert werden oder gekündigt haben. Diese Forschenden waren mal in jener Gruppe und mal in dieser Gruppe. Es gab keine zukunftsweisende Strategie dahinter. Zudem ist kommunikativ einiges schiefgelaufen, weil immer gesagt wurde, die Reorganisationen seien ein Erfolg gewesen. Man habe sie umgesetzt, die Sparübung sei gelungen, die Leistungen seien immer noch da. In Tat und Wahrheit waren das Übungen, die höchstens kurzfristige Zielerreichungsgrade hatten. Aber langfristig haben sie keine tragfähige Lösung für Grundprobleme gebracht. Und darum sind in regelmässigen Abständen immer neue Reorganisationen gekommen. Da sehe ich die Chance bei der nun anstehenden umfassenden Neupositionierung. Jetzt müssen wir Agroscope so aufstellen, dass die ewigen Diskussionen, die im 3- oder 5-Jahresrhythmus aufkommen und die Existenz und Leistungen in Frage stellen, vom Tisch sind. Damit die Institution durchschnaufen und durchstarten kann.

Es heisst also Posieux oder verschwinden?

Wenn man jetzt sagen würde, alle Standorte bleiben, wir müssen aber dennoch 40 Millionen einsparen, dann gäbe es massivste Einsparungen bei den Leistungen. Der Aufschrei käme bestimmt, einfach mit etwas Verzögerung. Und schliesslich würde es heissen: Wir müssen nun immer noch rund 150 Millionen in den Unterhalt der bestehenden Standorte investieren, erhalten aber immer weniger Leistung. Irgendwann ist dann Lichterlöschen.

Wie lautet Ihre Prognose bezüglich Reorganisation?

Ich bin sicher, dass Bundesrat Johann Schneider-Ammann alles daran setzt, das Projekt durchzuziehen. In seinem Umfeld ist es dasselbe. Eben aus den Überlegungen, dass es nicht eine wilde Idee ist, sondern dass es dermassen viele überzeugende Gründe gibt, dass man daran festhalten muss. Aber die Widerstände sind heftig, das ist so. Meine Prognose ist, dass es vielleicht die eine oder andere Ehrenrunde im Prozess gibt, aber dass wir am Schluss ins Ziel kommen.

Markus Rediger, Jonas Ingold und Michael Wahl, lid