Noch selten stand die Milchbranche in der Schweiz derart unter Druck wie heute. Obwohl der Rindviehbestand abnimmt, wird immer mehr Milch produziert. Der Butterberg ist stark gewachsen, und die Preise in der Schweiz sind tief. Kurz: Nachfrage und Angebot sind insbesondere im ÖLN-Molkereimilchmarkt nicht im Gleichgewicht.


Trotz der Marktmisere gibt es ein paar gute Gründe, die für die Milchproduktion in der Schweiz sprechen: Die Schweiz ist ein Grasland. Und die Viehhaltung für die raufutterbasierte Produktion von Milch und Fleisch hat eine lange Tradition. Es war die Viehhaltung, die zuerst dafür sorgte, dass auch Seitentäler bewirtschaftet werden können. Es ist die graslandbasierte Haltung von Wiederkäuern, die überhaupt Magerwiesen und Biodiversität im Alpenraum und die fruchtbaren Flächen in den Tallagen entstehen liess. Es war die Viehzucht, die die Schweizer Landwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon einmal vor dem Kollaps bewahrte. Damals besannen sich die Landwirte auf die Viehhaltung zurück, weil die Getreideimporte aus den USA dem Ackerbau stark zusetzten. Daraus folgten Viehzuchtgenossenschaften und eine Viehzucht, die heute international mithalten kann.

Allerdings scheint sich das bisherige Erfolgsrezept langsam aber sicher gegen die Bauern und ihre Milchkühe zu wenden. Heute wird Kraftfutter aus ganz Europa und der halben Welt herangekarrt, um noch mehr Milch zu produzieren. Weil aber die Kuh eigentlich ein Raufutterverzehrer ist, käme sie bestens ohne Kraftfutter aus und macht aus Gras Milch und Fleisch. Der Kraftfuttereinsatz steigert in manchen Fällen zwar die Leistungsfähigkeit, aber in den meisten Fällen «nur» den Status des Milchbauern (mehr Milch pro Kuh und Jahr), den Umsatz von Fenaco und anderen Futtermühlen (Futtermittelverkäufe) und die Konkurrenz beim Milcheinkauf (Milchüberschüsse).

Das zeigt schmerzhaft:  «Weiter wie bisher» ist keine gute Option mehr. Das bedingt verschiedene Veränderungen auf mehreren Ebenen:

Erstens müsste die Landwirtschaftslobby selbst ein Interesse daran haben, die höchsten und besten Tierschutzvorschriften in ganz Europa zu haben. Die Bauern und die Verarbeiter sollen alles daran setzen, dass die Vorschriften zur Profilierung am Markt verwendet werden können. Die Kunden wollen «Heidi-Feeling». Man könnte ihnen doch geben, was sie verlangen und sie dafür gleich noch zur Kasse bitten.

Zweitens müssen die Verbände, die Politik und die Gesellschaft einen Weg finden, damit Umweltschutz und Biodiversität und agrarische Produktion wieder als zusammengehörende Aspekte verstanden werden. Denn die Schweiz würde ohne die landwirtschaftliche Nutzung, ohne die graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion nie und nimmer so aussehen wie heute. Es liegt an den Bauern und ihren Verbänden zu erklären, woher unser Ökosystem kommt und wie es sich unter dem Einfluss der Landwirtschaft verändert hat. Dadurch wird die Milchproduktion als Eingriff in die Natur verstanden, der, wenn er «richtig» gemacht wird, auch positive Wirkungen auf die Ökosysteme zeitigt. Auch das wäre ein Verkaufsargument für Schweizer Milch.

Drittens müsste man sich politisch vom Konzept eines möglichst hohen Selbstversorgungsgrads verabschieden und stattdessen mit dem Indikator «landwirtschaftliche Wertschöpfung» arbeiten. Milchbauern und Milchverarbeiter sollen befähigt werden, sich noch konsequenter in Richtung «mehr Wertschöpfung auf dem Betrieb» zu entwickeln. Das heisst einerseits möglichst schlanke und günstige Produktionsstrukturen zu schaffen, und andererseits in Marktnischen vorzustossen, die einen anständigen Milchpreis erlauben. Die Bauern wollen nämlich von ihren Produkten leben, nicht von Bundesgeldern. Die Landesversorgung würde dennoch sichergestellt, weil es andere Produktionsgebiete gibt, die Massengüter günstiger herstellen können als wir. Diese müssten im Import den Bestimmungen der Schweiz entsprechen und würden dafür auch einen relativ höheren Preis erzielen. Eine solche Ausrichtung würde dennoch den Bauern diesseits und jenseits des Äquators helfen, in der Zukunft wieder eine Perspektive in der Produktion zu sehen, und nicht die nächste Preisrunde.

Viertens müssen bestehende Partnerschaften gestärkt werden. Dazu haben Verarbeiter und Produzenten ihre Verantwortung zu tragen. Lieferrechte notorisch zu überliefern und einen tiefen C-Milchpreis zu akzeptieren ist für den Milchmarkt keine langfristig sinnvolle Option. Die Verarbeiter sollen hier ihre Verantwortung wahrnehmen und den Bauern helfen, den Markt in Ordnung zu halten.

Fünftens müssen die Landwirte und ihre Verbände, die Detailhändler und die Verarbeiter eine aktivere Rolle in der öffentlichen Debatte spielen. Sie müssen auch Verantwortung für sich, ihre Kunden und ihre Lieferanten, aber auch für ihre Konkurrenten wahrnehmen. Verarbeiter, Produzenten und Konsumenten sitzen nämlich am Ende des Tages im gleichen Boot. Deshalb gibt es nur eine Chance, die Milchwirtschaft für die nächsten Jahrzehnte zu sichern. Und diese Chance ist eine feste Allianz zwischen Produzenten, Verarbeitern und Konsumenten. Alle zusammen können dem Schweizer Milchland Zukunft geben. Nutzt die Landwirtschaft diese Chance nicht, muss sie sich nicht länger wundern, dass die Konsumenten das Gefühl haben, die Milch komme aus dem Tetra Pak und Importe seien besser als die inländische Produktion.


Hansjürg Jäger