«Hoi André, und wie fühlst du dich? Sollen wir heute Olena oder Ismail nehmen?», begrüsst Michaela Schnyder den ersten Gast des Nachmittags. André lebt mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen im Behindertenheim Sunnebüel und darf alle zwei Wochen zur Reittherapie.

Obwohl er sich nicht verbal ausdrücken kann, ist ihm die Freude deutlich anzumerken. Und als hätte Olena die Wahl ihrer Besitzerin bereits geahnt, kommt die Quarter Horse-Stute interessiert aus dem Stall getrottet. Überrascht und erfreut nimmt Michaela Schnyder dies zur Kenntnis, denn «sonst ist Olena eher reserviert gegenüber ihr weniger vertrauten Menschen.»


«Pferde werten nicht»


Die Reitpädagogin und Primarlehrerin betreibt zusammen mit ihrem Mann Alexander Siegenthaler den Hof «Lucerne West» in Marbach im Entlebuch. Ihr Angebot umfasst eine ausgeglichene Mischung aus Reitstunden für Kinder und Erwachsene, Schule auf dem Bauernhof, Seminaren und Coachings und eben heilpädagogischem Reiten.

Letzteres liegt der 37-Jährigen besonders am Herzen. Ihre Begeisterung ist spürbar, wenn sie die Vorteile der pferdegestützten Therapie aufzählt: «Pferde werten nicht, ob ein Manager mit ihnen arbeitet oder eine Person mit Behinderung.»

Unnachahmlich sei auch das Gefühl, getragen zu werden, ähnlich dem Schaukeln einer Wiege. Dieses löse emotional und körperlich viel aus.

Strategien für den Alltag

Die Rolle der Reitpädagogin ist zumeist eine unauffällige: «Ich schaffe bestimmte Situationen mit dem Tier und dem Klienten und lasse diese dann wirken.» Sie erinnert sich bei diesen Worten an einen Jungen mit Aggressionsproblemen. Dieser sollte das Pferd ohne helfende Ausrüstung in einen Kreis in der Mitte der Halle bringen.

Nach der Erkenntnis, dass er mit physischer Kraft oder groben Worten nicht weiterkam, folgte eine Phase des Frustes. Danach habe er sich geöffnet und hilfesuchend an Michaela Schnyder gewandt. Mit dem Tipp, sich für das Pferd interessant zu machen und es damit anzulocken, habe er die Aufgabe schliesslich lösen können.

Diese neu erlernten Strategien lassen sich dann in den Alltag übertragen. «Gerade für Kinder fühlen sich solche Erlebnisse nicht wie eine Therapie an. Ich behandle nicht offensichtlich ihre Themen, sondern arbeite an ihren Defiziten durch konkrete Handlungen rund um das Pferd», unterstreicht Schnyder.


Die perfekten Partner


Die Vielseitigkeit der vierbeinigen «Arbeitskollegen» ist gross, ihr Einsatzgebiet reicht von Burnout-Patienten über rein körperliche Defizite bis hin zu Teambildungsanlässen. Der feinfühligen Luzernerin fällt es leicht, auf diese Vielfalt ihrer Kundschaft einzugehen. Mit einer starken Intuition und dem nötigen fachlichen Hintergrund findet sie für jeden die passende Strategie.

Die Ausbildung zur Reitpädagogin absolvierte Michaela Schnyder bereits vor rund 13 Jahren, daraufhin machte sie sich selbstständig. Durch den Lehrerinnenberuf und gute Kontakte zu Ärzten und Psychologen habe sich ihre Idee schnell weiterverbreitet und sei auf Wohlwollen gestossen, erinnert sie sich. 2011 war mit der Übernahme des Hofs Schufelbühl das Projekt «Lucerne West» geboren. Im gleichen Jahr kam Sohn Elija zur Welt, 2012 folgte Tochter Joana.


Mehr als ein Arbeitsgerät


Die passionierte Westernreiterin hat diesen Reitstil auf Reisen durch Kanada kennen und lieben gelernt. Typisch dafür sind die Quarter Horses, von denen Schnyder nur Gutes zu berichten weiss: «Fast im gleichen Atemzug, wie diese Pferde im Training extrem Gas geben, können sie total runterfahren und still stehen bleiben.»

Zusammen mit der handlichen Grösse sind dies entscheidende Eigenschaften für ein Therapiepferd. Natürlich gründet die Ausgeglichenheit nicht nur auf  dem Charakter, die artgerechte Haltung tut ihr Übriges. Der Schweizer Tierschutz hat «Lucerne West» das Label für beispielhafte Pferdehaltung verliehen.

Überhaupt legen die Betriebsleiter viel Wert auf das Wohl ihrer Trainingspartner. «Wir sind kein Fun- und Konsumationsbetrieb, sondern es soll ein echter Kontakt zum Partner Pferd entstehen», betont Michaela Schnyder, «denn der Hauptgrund, dass viele Therapien heute überhaupt nötig werden, ist mangelnde emotionale Beteiligung.»


Nachdem sich André auf dem Rücken von Olena durch die frisch verschneite Landschaft tragen liess, bedankt er sich mit kurzen Streicheleinheiten bei der sensiblen Stute. Kurz darauf begrüsst Michaela Schnyder den nächsten Gast, der strahlend seine Reitstunde erwartet: «Gell, du darfst heute auf Tom reiten.»

Andrea Gysin


Mehr Informationen unter www.lucernewest.ch