Die Heldin meiner Kindheit war eindeutig die rote Zora. So mutig, unerschrocken und frech hätte ich auch immer sein wollen. Und natürlich auch wie Winnetou, der edle Apachenhäuptling, der für Gerechtigkeit und Frieden kämpfte.


Bereits in der Antike gab es Heldenfiguren wie beispielsweise Odysseus oder Achilles. Ob später Wilhelm Tell, Winnetou, Robin Hood, James Bond, Superman, Spiderman, Pippi Langstrumpf oder Harry Potter - jede Epoche, jede Kultur und jedes Alter hat seine eigenen Helden. Waren es früher Geschichten, die weitererzählt oder in Büchern aufgeschrieben wurden, kamen später Fernsehserien und Kinofilme dazu. Heute sind es auch Computerspiele, die sich mit Heldenfiguren beschäftigen, und es gibt eine ganze Industrie für Sammelfiguren.

Identifikationsfiguren

Kinder brauchen Helden. «Medienhelden sind wichtig für Kinder, um den angemessenen Umgang mit Emotionen zu erlernen», sagt der Erziehungsberater und Buchautor Jan-Uwe Rogge. «Die Idole der Kinder verkörpern Mut, List, Stärke und Fantasie, dienen als Spiegel für Wünsche und Träume.»


Helden sind Identifikationsfiguren. Kinder finden in ihnen, was ihr Alltag nicht oder kaum zulässt. Die Helden können das, was man sich selber nicht zutraut. Sie sind so, wie man sein möchte. Pippi Langstrumpf zum Beispiel: Sie ist selbstbewusst und hat übernatürliche Kräfte. Sie setzt sich gegen alle äusseren Widerstände durch. Wickie («Wickie und die starken Männer») zeigt, dass auch ein Held sein kann, wer statt Muskeln und Mut seinen Verstand einsetzt und logisch denken kann. Figuren wie Harry Potter geben der Fantasie einen grossen Raum. Helden aus Filmen wie Superman oder Star Wars wiederum sagen, was gut und schlecht ist und bekämpfen das Böse. Helden zeigen den Kindern, wie sie sich, unabhängig von den Eltern, in der grossen weiten Welt zurechtfinden

können.

Kinder wählen sich aus dem grossen Heldenangebot, sei es in Filmen, Märchen oder Geschichten diejenigen Heldeneigenschaften aus, die ihnen in ihrer momentanen Lebenssituation hilfreich sind.

Helden des Alltags

Eine Schulklasse im Mittelland, zwischen neun und zehn Jahre alt, zählt auf die Frage nach ihren Helden ebenfalls Figuren wie Supermann, Robin Hood oder Harry Potter auf. Doch nicht wenige der Kinder machen noch andere Beispiele: «Helden sind Menschen, die anderen Menschen helfen», bringt es ein Mädchen auf den Punkt. Man braucht also für Heldentaten nicht unbedingt Superkräfte. Kinder, die sich für ihre Mitmenschen einsetzen sind ebenfalls Helden, Helden des Alltags eben.


Die meisten Helden und Heldinnen verkörpern besondere Eigenschaften, die wir vielleicht auch in uns tragen, oder die man selber gerne hätte. Sie machen sich auf den Weg, müssen sich bewähren und entwickeln sich zu einer Persönlichkeit. Sie werden in Geschichten oft vor besonders schwere Prüfungen gestellt, die sie bewältigen müssen. Kindern geht es oft ebenso. Kindergarten, Schule – dies alles sind Entwicklungsschritte in emotionaler, sozialer und intellektueller Hinsicht, die neue Erfahrungen bringen und bewältigt werden müssen.


Heldengeschichten zeigen den Kindern, dass sie mit ihren Problemen, Zweifeln und Ängsten nicht alleine sind. Und dass Schwierigkeiten überwunden werden können. Das gibt Selbstvertrauen.

Heldinnen in Märchen

Auch Märchen bieten Heldinnen oder Helden, mit denen sich Kinder identifizieren können. Eine Studie hat ergeben, dass Mädchen am liebsten Märchen haben, bei denen sich die weiblichen Figuren am Ende durchsetzen, zum Beispiel Aschenputtel, 
Dornröschen, Schneewittchen oder Hänsel und Gretel. Jungen lieben den gestiefelten Kater und bewundern vor allem seine List.


Neben den Prinzessinenträumen der Mädchen, die sich in Märchen wie eben Aschenputtel verwirklichen, gibt es aber auch Märchen speziell für Mädchen, in denen wirklicheHeldinnen vorkommen, zum Beispiel in den Grimmschen Märchen «Die sieben Raben» oder «Die sechs Schwäne».

Ängste gehören dazu

Sogar Helden haben manchmal Angst. Doch Ängste gehören zum Leben. «Man kann nicht vor ihnen davonlaufen, man muss sich ihnen stellen, aber nicht übermütig, gedankenlos, überheblich», sagt Jan-Uwe Rogge. Dazu brauchen Kinder Heldinnen und Helden, die ihnen zeigen, wie man sich Ängsten stellt, und wie befreiend es sein kann, wenn man sie besiegt hat.


«Bei allem Wissen, das Kinder besitzen, sind sie nach wie vor auf ihre fantastisch-magischen Fähigkeiten bei der Erklärung der Welt und der Verarbeitung von Angst angewiesen», so Rogge. Das magisch-fantastische Denken sei eine altersgemässe Form von Intelligenz, mit der Kinder schöpferisch tätig sind, um ihre Umgebung, ihre Nah- und Umwelten zu begreifen.

Ob Aschenputtel, Superman, Harry Potter oder die rote Zora – in einer Hinsicht sind sich alle Kinder einig: Bösewichte müssen bekämpft werden, und eine Heldengeschichte ist erst wirklich spannend, wenn am Schluss das Gute siegt.


Renate Bigler-Nägeli