Seitdem Volk und Stände sowohl einer Volksinitiative als auch einem direkten Gegenvorschlag zustimmen können, hat die Frage des Rückzugs eines Volksbegehrens an Brisanz verloren. Entscheidend ist für Initianten, ob der Gegenvorschlag allenfalls auch akzeptabel wäre, sollte dieser in der Stichfrage die Mehrheit erlangen. Oder anders formuliert, was ist mit dem Festhalten an einer Initiative zu gewinnen und welches Risiko wird damit eingegangen?


Vor dieser Frage sieht sich der Schweizer Bauernverband, bzw. das von ihm dominierte Initiativkomitee mit dem Volksbegehren für Ernährungssicherheit gestellt, nachdem der Ständerat mit 38 zu vier Stimmen einen direkten Gegenvorschlag verabschiedet hat. Allerdings kann der Zeitpunkt, mit welcher sich der SBV und seiner Basis diese Frage stellt, schon etwas irritieren. Denn der Entscheid über die Initiative, Rückzug oder Festhalten, stellt sich eigentlich zu diesem Zeitpunkt gar nicht.

Die parlamentarischen Beratungen sind noch nicht abgeschlossen. Und obwohl der Gegenvorschlag in der Fassung des Ständerates voraussichtlich auch im Nationalrat eine Mehrheit finden wird, hätte es mehr Sinn gemacht, mit der innerlandwirtschaftlichen Meinungsbildung vorläufig abzuwarten. Oder soll mit den Regionalseminaren das Feld für den Rückzug der Initiative bereitet 
werden?


Darauf deutet einiges hin. Auch die Stellungnahmen vor und nach der Debatte im Ständerat. Wer sich derart positiv zu einem Gegenvorschlag positioniert, wie es die SBV-Spitze getan hat, wird es hinterher schwer haben, glaubwürdig zu vertreten, warum die Initiative die bessere Lösung zur Sicherung der Ernährungssicherheit sein soll als diejenige, welche Bundesrat, Parlament und fast alle Parteien sowie die namhaften Organisationen von Wirtschaft bis Natur- und Umweltschutz unterstützen? Alles andere als ein Durchmarsch des Gegenvorschlages wäre inzwischen eine faustdicke Überraschung.

Das mag man in der Landwirtschaft bedauern. Nur hier sind Stimmen wie von BIG-M, SALS (Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor) und VPL (Verein für eine produzierende Landwirtschaft) zu vernehmen, welche den Gegenvorschlag ablehnen und an der Initiative festhalten wollen.  Verwundern können diese Stimmen nicht. Denn viele Bäuerinnen und Bauern, welche sich mit Enthusiasmus bei der Unterschriftensammlung für die Initiative eingesetzt hatten, machten dies nicht, weil sie ein umfassendes Konzept für die Ernährungssicherheit in der Bundesverfassung verankern wollten. Sie versprachen sich von diesem Volksbegehren, so wohlformuliert und vage es auch ist, eine Stärkung der inländischen Produktion. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Initiative und Gegenvorschlag, wie es auch SBV-Präsident Markus Ritter eingeräumt hat.  Alle weiteren Interpretationen sind an den Haaren herbeigezogen, wie etwa die Bemerkung, dass die Erwähnung von «grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen» im Gegenvorschlag zu Existenz gefährdendem Freihandel führen würde. «Grenzüberschreitende Handelsbeziehungen» sind in einem Land, das sich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr selber ernähren kann, eine Selbstverständlichkeit. Zumindest für jene, welche von einem Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit auch eine Orientierung an den Realitäten erwarten.

Nein, dieser Gegenvorschlag bringt der Landwirtschaft nichts. Zumindest kurzfristig nicht. Aber das gilt auch für die Initiative. Beiden Varianten fehlen die unmittelbar umzusetzenden Forderungen. Solche Verfassungsgrundlagen sind Leitplanken für das künftige politische Handeln. Und bisweilen nicht einmal das, wie das Parlament unlängst mit der Masseneinwanderungsinitiative gezeigt hat. Gleichwohl steht, um die eingangs gestellte Frage zu beantworten, viel auf dem Spiel: Es geht um die Deutungshoheit über die Agrarpolitik.

Der SBV als Dachorganisation der Landwirtschaft muss eine Leitstimme in einem Chor bleiben, in dem viele mitsingen. Das kann er aber nur, wenn er in einer Abstimmung über einen Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit zu den Siegern gehört. Mit Pauken und Trompeten zu scheitern, mag zwar durchaus reizvoll sein. Aber dann werden andere (noch) stärker bestimmen, wohin die Reise mit der Landwirtschaft geht.

Ruedi Hagmann