Seit ich mich erinnern kann, 
waren sie ein Bestandteil meines Lebens. Wie oft sass ich auf den Knien meines Grossvaters mit 
einem Bilderbuch in der Hand, und er erzählte. Später las er mir aus einem Buch mit dottergelbem 
Einband eine Geschichte nach der andern vor, weil ich nie genug davon bekommen konnte.

Ich liebte seine Nähe, seine Stimme und sein knallrotes Gesicht, wenn er etwas las, was er so lustig fand, dass er nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Dann nahm er seine Brille ab, zog sein grosses Stofftaschentuch aus dem Hosensack und sagte, immer noch kichernd: «I mue mer no schnell s Chämi ruesse!» Und wenn sein «Zingge», wie er seine Nase auch nannte, dann wieder sauber war, und die randlose Brille am rechten Ort sass, gings weiter. Stern
stunden!

Meine Grossmutter, ohne Brille, erzählte auch. «Grossmueti, verzell no e Gschicht! Bitte! Wäsch diä vom Bueb mit dä Ratte, wo du so Angscht gha hesch!» Und dann schmunzelte sie und legte los. Sie hob Details hervor, verdrehte die Augen, spielte Szenen nach, und hatte die Begabung, jeden, und ich meine wirklich jeden Schweizer Dialekt perfekt zu kopieren!

Wir lachten Tränen und hielten uns die Bäuche, meine Schwestern und ich. Highlights!

Ich behaupte, dass meine Erinnerungen an die Heidigeschichte die schönsten sind, die es gibt! Sie erzählte fast ohne das Buch. Aber gerade deswegen sind mir Fräulein Rottenmeier mit der falsch herum aufgesetzten Nachthaube, der Geissenpeter in seiner unbeholfenen Art, der Alpöhi mit dem weichen Herzen und die blinde Grossmutter, für die Heidi in Frankfurt die Brötchen versteckte, immer noch präsent.


Und meine Tante Elsbeth! Das erste Bilderbuch schenkte sie mir zur Geburt. Das wiederholte sich viele Geburtstage. Ein Bilderbuch mit dem Märchen von Jorinde und Joringel ist mir besonders lieb.

Es fällt fast auseinander, aber die Bilder und die wunderschöne

Liebesgeschichte sind in meinem Herzen. Wie Joringel die Blume mit dem Tautropfen suchen muss, um damit seine Jorinde aus den Fängen der bösen Hexe zu befreien, die sie in eine Nachtigall verzaubert hat.


Als ich acht war, besuchte uns in der Schule eine Schriftstellerin. Sie las uns aus ihrem Buch vor, und wir durften Fragen stellen. An diesem Vormittag sagte ich im Stuhlkreis mit meinen Mitschülern kein Wort, aber ich fasste einen Entschluss: Das will ich auch, ich werde Schriftstellerin! Ich will Geschichten erzählen!

Bis heute habe ich keinen Bestseller gelandet, aber immer konnte ich auf diesen Schatz zurückgreifen, der mir als Kind geschenkt wurde. Geschichten erzählen kann jeder, wir verlernen es nur immer mehr! Aber eigentlich besteht unser Leben aus vielen kleinen Geschichten! Oder anders: Es ist eine grosse Geschichte, auf die wir jeden Tag Einfluss nehmen können! Eine leere Seite aufschlagen, ein neues Kapitel beginnen! Und dran bleiben! Viel Mut!

Therese Looser