Der Konsument sollte viel und tut doch immer das andere: Diese Wahrnehmung scheint vorzuherrschen, wenn es um nachhaltiges Verhalten geht. «Wenn wir Verhaltensänderungen erreichen wollen, müssen wir endlich zu verstehen anfangen, wie wir als Menschen funktionieren», ist Verhaltensökonom Gerhard Fehr überzeugt. Er referierte am diesjährigen Future-Food-Symposium, bei dem die Veranstalter SVIAL, SGLWT und Swiss Food Research mit dem Titel «Die Konsumentenversteher(innen)» eine hohe Latte gesetzt hatten.
Wenige ändern ihren Lifestyle
Jede Entscheidung sei eine Frage des Lifestyles, fuhr Gerhard Fehr fort. Dieser setze sich zusammen aus den Bereichen Ernährung, Schlaf und Bewegung. Sobald man etwas in einem dieser Bereiche ändere, habe das Auswirkungen auf die anderen – «es ist wichtig, das zu verstehen», so der Verhaltensökonom. Gleichzeitig seien Essen, Schlafen und Bewegen etwas, das jeder täglich tue und die einen grossen Einfluss auf den ökologischen Fussabdruck habe.
Gesammelte Daten zeigen laut Gerhard Fehr, dass die wenigsten Menschen ihren Lifestyle ändern. Und wenn man es schon nicht aus Eigeninteresse (z. B. zugunsten von Gesundheit oder Zufriedenheit) tue, sei die Wahrscheinlichkeit gering, es im Sinne des kollektiven Nutzens zu tun. Anpassungen für mehr Nachhaltigkeit zeigten überdies erst in Zukunft Wirkung, «und alles, was übermorgen ist, ist für Menschen schwierig.» Trotzdem ist der Fachmann sicher: «Nicht der Konsument macht es falsch, sondern Sie.» Beruflich berät er bei FehrAdvice & Partners Unternehmen verschiedener Sparten darin, beispielsweise über verhaltensökonomische Anpassungen erfolgreicher zu werden. «Sie müssen Produkte machen, die den Konsumenten eine Veränderung ermöglichen», wandte sich Fehr an sein Publikum, in dem Forschung, Labelorganisationen, Stiftungen, Detailhandel, Start-ups und Verarbeiter vertreten waren.
Bewusstsein wäre vorhanden, die Bereitschaft fehlt
Bewusstsein zu schaffen, ist laut Gerhard Fehr nicht ausreichend. «Menschen sind nicht blöd», betonte er, «aber sie sind begrenzt rational.» Die Einkaufssituation und Stress wären mögliche Faktoren, die das Verhalten abseits rationaler Entscheidungen beeinflussen. Da bereits 90 Prozent der Schweizer Konsument(innen) das nötige Bewusstsein für eine nachhaltigere Ernährung hätten, sei auf Ebene der Bereitschaft anzusetzen. «Aber bei der Nachhaltigkeit haben wir 20 Prozent No-Changer. Die sind laut und können uns als Kunden verloren gehen.» Durch das Schaffen von Alternativen oder das Betonen anderer als der ökologischen Vorteile könne es gelingen, solche Änderungsunwillige mitzunehmen und ihren potenziell schlechten Einfluss auf den Rest der Kundschaft zu vermeiden.
Besser beobachten als fragen
Agroscope-Forscher Fabian Wahl betonte, in der Diskussion um nachhaltige Ernährung werde zu wenig über Gesundheit gesprochen. Für ihn könne eine Ernährungsweise nie nachhaltig sein, wenn sie nicht auch gesund sei. «Fehlernährung ist der Hauptgrund für verlorene Lebensjahre, nicht etwa Alkohol oder Tabak», gab Wahl zu bedenken. Der Konsument habe z. B. in der Klimastrategie Landwirtschaft und Ernährung des Bundes den grössten Anteil, werde aber am wenigsten unterstützt – wie jemand isst, fällt in dessen Eigenverantwortung. Dabei ist sich Fabian Wahl bewusst, dass gesunde und nachhaltige Ernährung ein weites Feld ist. «Der Ansatz einer Lösung für alle passt da nicht, dafür sind wir zu verschieden.» Um Daten über Ernährungsverhalten zu sammeln, rät der Agroscope-Forscher von reinen Befragungen ab – beobachten sei besser als befragen. Er verglich die Aussagekraft von Befragungen mit einem Polizisten, der am Strassenrand steht und von den Autofahrern wissen will, ob sie zu schnell gefahren seien. Ein Radargerät brächte deutlich bessere Daten als diese Selbstdeklaration.
Cumulus- und Supercard-Daten nutzbar machen
«Ich möchte auch herausfinden, was die Konsument(innen) tun», stellte Tamara Bucher von der Berner Fachhochschule klar. Die Wissenschaftlerin arbeitet daran, einen grossen Datenschatz zu nutzen, den sie als «heiligen Gral» bezeichnete: Die Daten von Treuekarten wie der Supercard von Coop oder dem Migros-Cumulus-Programm. Im Moment würden sie praktisch nur für Marketing genutzt; Konsumenten hätten kaum Zugriff auf ihre Konsumdaten und die Wissenschaft zahle sehr viel Geld, um an solche Daten heranzukommen. Eine breitere wissenschaftliche Auswertung der Treuekarten-Daten hätte laut Bucher aber für verschiedene Akteure Vorteile. Die Konsument(innen) könnten etwa hinsichtlich Budgetplanung profitieren oder von Statistiken dazu, über welche Produkte sie am meisten Salz aufnehmen. Die Forschung bekäme Daten, die sonst aufwändig und teuer gesammelt werden müssten und die zur Entwicklung gezielter Massnahmen beitragen könnten. Die Inhaber von Supercard oder Cumulus-Karten müssten ihr Einverständnis zur Datenweitergabe geben, Coop und Migros im Prinzip allerdings nicht. «Wir möchten mit den Detaillisten zusammenarbeiten», so Tamara Bucher. «Das würde das Ganze vereinfachen.» Sie bezeichnet sich selbst als «überzeugte Verhältnispräventionistin». Das heisst, man müsse die Bedürfnisse der Konsumenten berücksichtigen und die Umgebung so gestalten, dass ihnen Verhaltensänderungen möglich sind. «Eine gesunde und nachhaltige Ernährung muss schmackhaft und bezahlbar sein», so die Forscherin.
Klimawandel in der Kantine
Wie das in der Praxis aussehen kann, erläuterte Christian Kramer. Sein Start-up Food 2050 erstellt ein Menüleitsystem, das Gästen in der Gastronomie transparent aufzeigen soll, wie sich die eigene Ernährung auf die Klimaerwärmung auswirkt. Gleichzeitig werde ausgewiesen, wie gesund sich der Gast ernährt. Food 2050 arbeitet z. B. mit ZFV zusammen, die u.a. in der Gemeinschaftsgastronomie tätig ist. Man wolle die Gäste zu einer klimafreundlicheren und ausgewogeneren Ernährung «inspirieren», schreibt ZFV. Die durch ihre Menüwahl verursachte Erwärmung in Grad Celcius und die Klimawirkung aller Menüs einer Kantine werden auf digitalen Speisekarten bzw. über einen Ticker ausgewiesen. Damit wird ZFV zwar keine Konsumentenversteherin, doch soll die offensichtliche Information über die Folgen des eigenen Konsums ein bewussteres, gesünderes und klimafreundlicheres Verhalten fördern.
«Wir stehen vor verschiedenen Hürden, wenn wir Konsumenten verstehen wollen», fasst Lucas Grob von Swiss Food Research zusammen. Für eine nachhaltige und langfristige Verhaltensänderung brauche es daher eine gesamtheitliche Strategie. «Produkte müssen unserem Verhalten entsprechen und Lösungen bieten», fährt er fort. «Ausserdem gilt es, unsere Emotionen zu berücksichtigen.»
Im Kleinen experimentieren
Im Rahmen des Future-Food-Symposiums wurde die neue Technologiehalle der HAFL in Zollikofen BE eingeweiht. Die Räume sind ausgerüstet für verschiedene Verarbeitungsmöglichkeiten der Lebensmittelindustrie. Diese «Versuchsküche» soll es ermöglichen, Neues ressourcenschonend im Kleinen auszuprobieren und steht auch Sart-ups offen.