Wanderhirten haben in der Schweiz eine lange Tradition. Franco Vitali aus dem bündnerischen Poschiavo ist einer von ihnen. Derzeit durchstreift er mit 700 Schafen, vier Eseln und drei Hunden die Ostschweiz und bezeichnet sich als Dirigent der Schafherde. Der Tag von Franco Vitali beginnt um sieben Uhr in der Früh. Bis zu dreizehn Stunden ist er dann mit seinen Schafen unterwegs. Tag und Nacht ist der Hirte für seine Tiere da – vier Monate lang, bei jedem Wetter, ohne freien Tag. Ein anstrengender Beruf, aber die Erfüllung seines Lebenstraums.

Mit 700 Schafen unterwegs

Franco Vitali stützt sich auf seinen Hirtenstock. Es hat Hochnebel und ist feucht-kalt, aber es regnet nicht. «Schafe fressen ungern bei Regen», sagt er, ohne den Blick von der hügeligen Landschaft im Weiler Ebnet im Westen von Gossau SG abzuwenden. Die Herde umfasst 700 hungrige Schafe. Friedlich grasen sie auf einer grossen Wiese. 18 Schafe und die vier Esel des Wanderhirten tragen Glöckchen. Nicht, um sie leichter wieder zu finden, wie man meinen könnte, sondern einfach, weil Franco Vitali den Klang mag. Der 63-Jährige ist Schäfer und Landwirt aus Leidenschaft. Seine wachen Augen zeugen von einem ebenso wachen Geist. Seine Haut ist braun gebrannt und von Falten durchzogen. Seit 30 Jahren lebt er an der frischen Luft, durchwandert mit seinen Tieren faszinierende Landschaften und geniesst die Einsamkeit.

 

Es braucht Leidenschaft

Im Alter von 21 Jahren kam Fracno Vitali, ein Bauernsohn aus der italienischen Provinz Brescia ins Bündnerland, fand dort Arbeit und heiratete eine Einheimische. Hirte zu werden war Franco Vitalis Jugendtraum. Dem tier- und freiheitsliebenden Mann gefällt die Anstellung auf Zeit in der Schäferei von Fritz Barandun auf dem Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen bei Gossau. «Ich bin mit Franco sehr zufrieden. Er ist ein Hirte alter Schule», sagt Barandun. Warum aber lässt Barandun seine Schafe nicht einfach im Stall? «Draussen fühlen sie sich viel wohler und sie können sich von frischem, gutem Gras ernähren», erklärt Barandun, der früher selber als Wanderhirte unterwegs war. Zwar gibt es heute in der Schweiz eine modular aufgebaute Schafhirtenausbildung, doch Barandun ist der Meinung, dass man Schäfer nicht so einfach lernen kann. «Für diesen Beruf braucht es vor allem Leidenschaft. Man muss ihn im Blut haben», sagt er.

 

An trockenen Tagen kann Franco Vitali die Schafe besser führen als bei schlechtem Wetter. «Sie fressen bei Nässe nicht so gut, da kann ich die Tiere nicht noch herumscheuchen», sagt der «Direttore d'orchestra» in seinem bündnerisch-italienisch ­gefärbten Akzent. Von 12 bis 15 Uhr gibt es eine Ruhepause. Stillstand kommt sonst nicht in Frage. «Wir ziehen stetig weiter. Festgetrampeltes oder mit Kot übersätes Weideland ist nicht gut – alles immer frisch», lautet Vitalis Devise. Und momentan gibt es ja genug frisches Gras.

Um die Mittagszeit kommen Dora Kästli und Astrid Baumgartner vom Weiler Ebnet vorbei und bringen dem Schäfer Gemüsesuppe, Milch, Biskuits und eine Flasche Schnaps. Für die Hunde haben sie frische Hühnermägen dabei. «Wir schauen alle, dass er und seine Tiere nicht verhungern», schmunzelt die Gossauerin Dora Kästli. «Ich habe alle Suppen gern. Die Menschen sind hier sehr nett zu mir», freut sich der Hirte und schlürft genüsslich die Suppe aus einer Tasse. Später stösst auch noch die Bäuerin Patricia Schläpfer aus Niederbüren dazu. Sie schenkt dem Schäfer Kaffee in einem Pappbecher ein und schneidet ihm ein frisches Stück Kuchen direkt vom Backblech ab. Auf ihrem Hof darf Vitali manchmal auch duschen.

 

Zuverlässige Helfer

Die drei Hütehunde Lori, Var und Rocky behalten indes die Herde jederzeit im Blick. Vitali dirigiert sie mit einfachen, lauten Kommandos: «Vai!» (Geh), «Vieni!» (Komm) und «Resta!» (Bleib). Die Hunde gehorchen aufs Wort. Sie halten die Schafe auf der Fläche, die gerade beweidet werden soll. Die Hunde bellen kaum, sind ruhig, rennen aber bei Bedarf hin und her. «Wir machen alle täglich zwischen acht bis 15 Kilometer», sagt Vitali. Mit dabei sind auch die Esel Titti, Nera, Franca und die einen Monat alte Nina. Die schönen und genügsamen Tiere tragen die mobilen Zäune, Werkzeuge und das Essen auf ihren Rücken. Vitalis Quartier ist ein umgebauter Nissan-Viehwagen. Sein richtiges Zuhause ist in Poschiavo. Dort steht sein Haus, dort wohnt er mit seiner Frau.

 

Während der Wanderzeit schläft der Hirte in seinem einfach, aber zweckmässig eingerichteten Viehwagen. «Der Tiertransporter ist isoliert und mit einem Bett, Tisch und Gaskocher ausgerüstet. Heizen kann ich ihn allerdings nicht. Auch meine drei Hunde schlafen hier drin», sagt Vitali. Neben einem einfachen Mobiltelefon besitzt er auch noch ein kleines Radio. Vor dem Einschlafen hört er gerne Volksmusik und Nachrichten auf Rete Uno von «Radiotelevisione Svizzera» oder auf «Radio SRF 1».

Eine Art Landschaftspfleger

Franco Vitali sorgt dafür, dass die Schafe – die teilweise im Frühjahr geschlachtet werden – gesund bleiben und feiss werden. Er sieht sofort, wenn ein Schaf krank oder verletzt ist oder nicht richtig frisst. Für die Weidegebiete in der Ostschweiz sind die Schafherden wie Landschaftspfleger. Ohne die sanfte Beweidung würden niedrigwüchsige Pflanzenarten schnell von hochwüchsigen Gräsern und Stauden überwachsen und verdrängt. Ausserdem wird Zucht betrieben und die Schafwolle verkauft. Der Wollertrag decke aber heute nicht einmal mehr den Schurlohn, sagt der Schäfer. Der Sozialverein Fiwo zur Förderung der innovativen Wollverarbeitung in Amriswil bezahlt rund 1,20 Franken pro Kilogramm.

Bislang verlief die Wanderschaft problemlos. Keines von Vitalis Schafen ist gestohlen, von Wölfen gerissen oder durch den Verkehr verletzt worden. «Ich hatte Glück. Alles läuft gut und ich kann deshalb gut schlafen», sagt er bei unserem Besuch im Dezember. Das war Ende Juli 2012 anders, als bei Poschiavo ein Bär sieben seiner Schafe riss. Am nächsten Abend tauchte der Bär M13 auf der Alp Palü auf und jagte einen seiner Esel, liess aber glücklicherweise wieder von ihm ab. «Ich wollte ihn mit meinen Hunden verjagen. Doch das zottelige Ungetüm richtete sich etwa zehn Meter vor mir auf», erzählt Franco Vitali. «Das war eine Furcht einflös-sende Situation. Wir haben natürlich unverzüglich Reissaus genommen.»

«Der Herr ist mein Hirte»

Es ist Abend, längst hat es eingedunkelt. Franco Vitali aber steht genauso entspannt auf seinen Hirtenstab gestützt wie schon vor zwölf Stunden – jetzt halt nur an einem anderen Ort. Nach stundenlangem Fressen und scheinbar ziellosem Treiben strömen und drängen jetzt die Schafe gemeinsam mit ihrem Hirten zum Ruheplatz, einem mit Flexinetzen eingezäunten Pferch von 75 auf 75 Meter. Wenn alle Tiere in der Abendraststätte drin sind, gönnt sich Franco Vitali rasch eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Schokolade. Die Kälte ist durchdringend. Erst, wenn die Nacht anbricht, ist für den Hirten Feierabend.

Was wünscht sich ein guter Hirte, dem sein Beruf zur Lebensaufgabe geworden ist? «Vor allem Gesundheit, alles andere liegt in Gottes Hand», meint dazu Franco Vitali. Und angelehnt an den Psalm 23: «Der Herr ist mein Hirte», wünscht sich der Wanderhirte, dass er vielleicht dereinst draussen bei seinen Schafen seine letzte Ruhe finden darf.