Anfang letztes Jahrhundert gelang es dem Chemiker Fritz Haber erstmals, Stickstoff aus der Luft in einem technischen Verfahren in Ammoniak umzuwandeln: Der Kunstdünger war erfunden. Mit einem Kilogramm mineralischem Stickstoff konnte auf einen Schlag 12 kg mehr Getreide geerntet werden. Vorher mussten die Landwirte mit dem Stickstoff auskommen, den der natürliche Stickstoffkreislauf hergab. Bakterien fixieren dabei den Stickstoff aus der Luft im Boden, von wo ihn die Pflanzen als Nitrat und schliesslich auch die Menschen und Tiere mit dem Essen – beispielsweise in Proteinen ­– aufnehmen, ehe sich der Kreis mit der Abgabe der Exkremente wieder schliesst. Habers Kollege Carl Bosch entwickelte die grosstechnische Produktion von Stickstoff und ermöglichte so erst das in der Menschheitsgeschichte beispiellose Wachstum der Weltbevölkerung. Heute stehen überall auf der Welt die nach den beiden Erfindern benannten Haber-Bosch-Anlagen. Ohne sie müsste ein Drittel der Menschen hungern.

Wie viel erträgt das System?

Doch Stickstoff ist für die Landwirtschaft mittlerweile Segen und Fluch zugleich. Hohen Erträgen steht eine Überschreitung der sogenannten «Critical Loads» gegenüber. Das sind naturwissenschaftlich berechnete ökologische Belastungsgrenzen, die maximale Mengen an belastenden Stoffen, die in ein Ökosystem einfliessen, festlegen, ohne dass dieses Schaden nimmt. In der Gesamtbilanz wird demnach in der Schweiz zu viel Stickstoff ins System gepumpt. 110'000 Tonnen Stickstoff landen nicht als Nährstoff in den Pflanzen, sondern unbeabsichtigt als Nitrat in Gewässern oder geht als Ammoniak oder klimaschädliches Lachgas in die Luft. Das eine ist schlecht fürs Grundwasser, das andere belastet – verbreitet über die Luft – beispielsweise Wälder oder führt zu Verlust von Biodiversität, wenn plötzlich Magerwiesen zu viel Nährstoffe abbekommen.

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Der Druck steigt

Gemäss Agrarbericht 2016 des Bundesamtes für Landwirtschaft sind vor allem importierte Mineraldünger und Futtermittel – indirekt in der Gülle – Schuld an der Überlastung des Systems. Schon seit Jahren verlangt die Politik von der Landwirtschaft, dass sie ihre Stickstoffeffizienz verbessert. Obwohl die Landwirtschaft in den letzten Jahren einiges dafür getan hat, wurden in den letzten Jahren unter dem Strich kaum Verbesserungen erzielt. Der Druck auf die Landwirtschaft wächst deshalb. Vor allem die Trinkwasserinitiative, welche den Import von Futtermitteln reduzieren will, hat viel Dynamik in die politischen Diskussionen hereingebracht.

Technische Lösungen zur Reduktion der Stickstoffüberschüsse
Schleppschlauchverfahren: Die bodennahe Ausbringung von Gülle vermindert Ammoniak-Verluste in die Luft.
Sensoren in Güllefässern: Ein Nahinfrarotsensor (NIR) bestimmt laufend den Stickstoffwert in der Gülle und dosiert automatisch die Menge, die dann bedarfsgerecht ausgegeben wird. 
Präzisionsdüngung: Ein Düngerstreugerät passt die abgegebene Düngermenge ja nach Bodenbeschaffenheit und Aufnahmefähigkeit an, dazu nutzt er eine per GPS erstellte Düngerkarte.
Nitrifikationshemmer: Der Gülle zugefügte Stoffe, welche die Abgabe des Stickstoffs an die Pflanze verzögern und so das Risiko der Nitratauswaschung reduzieren. 
Stickstoffreduzierte Phasenfütterung bei Schweinen: Der Proteingehalt der Ration wird an den Bedarf von Schweinen in zwei oder drei Gewichtsphasen angepasst und verringert so die Stickstoff-Ausscheidungen der Tiere. 
Abluftreinigungsanlagen in Ställen: Vor allem bei Schweinen und Hühner kann bis zu 90 Prozent des Ammoniaks aus der Abluft herausgefiltert werden.
Zwischenfrüchte: In den Wintermonaten angebaute Pflanzen binden die Nährstoffe und verhindern die Auswaschung von überschüssigem Nitrat. 
Gemüseanbau in Rinnen: Das Gemüse wächst in einem geschlossenen Kreislauf ohne Bodenkontakt, der Stickstoff bleibt im System und geht deshalb nicht verloren. 

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Weniger DGVE in der AP 22+ als Lösung

Als Folge ist nun ein Absenkpfad von 10 Prozent weniger Stickstoffüberschüssen bis 2025 und 20 Prozent bis 2030 verpflichtend vorgesehen. Um dies zu erreichen, sieht der Bundesrat in der Anfang Jahr vorgestellten Botschaft zur AP 22+ unter anderem die Reduktion der erlaubten tierischen Dünger von drei auf 2,5 Düngergrossvieheinheit (DGVE) pro Hektare vor. Eine DGVE entspricht dem durchschnittlichen jährlichen Anfall von Gülle und Mist einer Kuh, ein Zuchtschwein kommt auf 0,45 DGVE ein Huhn auf 0,01. Die Massnahme wird in bäuerlichen Kreisen als unqualifizierter Rundumschlag von Schreibtischtätern beim Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) wahrgenommen. Vor allem die Milchvieh- und Rindermastbetriebe fürchten um die Zukunft ihrer Betriebe. Aber was ist eigentlich das Problem?

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Düngung ist keine exakte Wissenschaft

In der Schweiz gibt es mindestens so viele Bodentypen wie Käsesorten. Jeder hat andere Eigenschaften, was sich auf die Düngeraufnahmefähigkeit auswirkt. Die Speicherfähigkeit von Wasser und Nährstoffen ist in sandigen Böden gering. Böden mit einem hohen Humusanteil speichern hingegen relativ viel organischen Stickstoff. Ob dieser mineralisiert und von den Kulturen aufgenommen werden kann ist wiederum von weiteren Faktoren wie Bodenfeuchtigkeit, Temperatur, pH-Wert oder Bearbeitungsmethode abhängig. Jeder Bauer kennt seinen Boden und dessen Geschichte. Viele messen den Stickstoffgehalt mit Bodenproben, um den Bedarf der Pflanze respektive die Düngermenge besser bestimmen zu können.

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Trotzdem bleibt es immer ein bisschen Glücksache, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um seinen Kulturen die optimale Nährstoffumgebung zu bieten. Bleibt es nach der ersten Düngergabe lange nass und kalt, wächst die Pflanze nicht und nimmt keine Nährstoffe auf. Es besteht die Gefahr der Nitratauswaschung. Verpasst der Landwirt den richtigen Zeitpunkt, fehlt der Pflanze möglicherweise der Stickstoff für das Wachstum und der Ertrag ist bedroht. Umweltrelevante Emissionen bei der Stickstoff-Düngung in der Landwirtschaft lassen sich in diesem komplexen Umfeld deshalb nie vollständig vermeiden, ausser in geschlossenen Systemen in Gewächshäusern. Diskutiert wird jetzt aber darüber, wie die Stickstoff-Überschüsse auf das erträgliche Mass heruntergebracht werden können.

Betriebe kennen Nährstoffflüsse

Die in der AP22+ vorgeschlagene Reduktion der DGVE greife angesichts dieser Komplexität des Düngens eindeutig zu kurz, findet Düngeberater Othmar Vollenweider vom Aargauer Bauernverband. «Milchviehbetriebe an geeigneten Standorten können problemlos genug eigenes Futter für drei Kühe pro Hektare produzieren, nur mit eigener Gülle und Mist.» Sie sind in diesem Sinne Trinkwasser-Initiativen-kompatibel. Es mache keinen Sinn mit der pauschalen Beschneidung des maximalen DGVE-Wertes einen Bauernhof mit sandigem, einem anderen mit tonhaltigem Boden gleichzusetzen. Mit dem seit vielen Jahren in der Branche bewährten Software-Tool Suisse-Bilanz könnten die Nährstoffflüsse schon heute für jeden Betrieb bestimmt und daraus der zulässige Bedarf berechnet werden. Dabei wird erfasst, wie viel Stickstoff mit Futter und Dünger zugekauft respektive vom Betrieb als Lebensmittel oder Gülle weggeht. Stickstoff-Überschüsse werden so zumindest auf dem Papier auf dem Betrieb minimiert.

Wird Gülle durch Mineraldünger ersetzt?

Was könnte die nun in der AP22+ vorgeschlagene DGVE-Reduktion pro Hektare für einen Milchviehbauern konkret bedeuten? «Im schlimmsten Fall würde er die administrativ überschüssig gewordene Gülle wegführen, beispielsweise zu einem Betrieb ohne Vieh, und die Lücke mit zugekauftem Mineraldünger wieder füllen.» Die Importe von Mineraldünger würden so sogar zunehmen, es wäre also kontraproduktiv. Das BLW hofft allerdings auf das Gegenteil: «Es entsteht ein Angebot an wertvollem und günstigem organischem Dünger, welcher den Mineraldünger teilweise ersetzen und für viele Betriebe interessant sein kann», sagt Mediensprecher Jonathan Fisch. Für ihn ist aber klar, dass für Betriebe, die Hofdünger wegführen müssten, der Druck zunehmen werde, Abnehmer zu finden, da ansonsten die Tierbestände reduziert werden müssten. Gemäss Botschaft rechnet das BLW mit bis zu 1,4 Millionen Kubikmeter flüssigem Hofdünger, der auf den Strassen zusätzlich herumgekarrt werden würde. «Ein Unsinn», findet Vollenweider.

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Ginge es auch ohne weniger Produktion?

Gegenüber der Landwirtschaft kritisch eingestellte Kreise wollen das Stickstoff-Problem sowieso ganz anders lösen. Der Hauptgrund für die zu hohen Stickstoff-Emissionen seien die zu grossen Nutztierbestände, die regional weit über dem für Ökosysteme tragfähigen Mass liegen würden, schreibt beispielsweise Biovision Schweiz in ihrer Stellungnahme zur Botschaft der AP 22+. Ein Runterfahren des Tierbestandes ist für Dünge-Experte Vollenweider aber keine valable Option: «Eine Reduktion von 60 auf 50 Tiere wäre für einen Milchviehbauern wirtschaftlich nicht verkraftbar, insbesondere wenn er gerade in einen neuen Stall investiert hat». Vollenweider ist überzeugt, dass man das Stickstoffproblem mit den bestehenden Instrumenten wie beispielsweise der Suisse-Bilanz in den Griff bekommen kann, ohne dass die Produktion zurückgefahren werden muss.

Im Detail liegt der Hund begraben

Noch gravierendere Folgen auf den Tierbestand hätte die in der Botschaft vorgesehene zusätzliche Streichung der bisher geltenden 10-Prozent-Toleranz in der Suisse-Bilanz. Diese war bisher erlaubt und berücksichtigte im System die bestehenden Schätzungsungenauigkeiten und unvorhergesehene Einflüsse der Witterung auf die Nährstoffflüsse. «Die Anpassung dieser Bestimmung betrifft im Gegensatz zur Senkung der DGVE praktisch alle Bauern», sagt Vollenweider. Um das Risiko einer Überschreitung der zugelassenen Nährstoffmenge zu verhindern, würden sich die Landwirte künftig davor hüten, am oberen Limit zu düngen.

Toleranzgrenze aus politischen Gründen abschaffen

Beim Schweizer Bauernverband (SBV) beurteilt man den Vorschlag kritisch. «Die Abschaffung des 10-Prozent-Toleranzwertes widerspricht agronomischen Überlegungen», sagt François Monin vom SBV. Der Wert bilde Unsicherheiten ab, die der Bauer während der Anbauzeit nicht beeinflussen könne und sich erst Ende Jahr definitiv bestimmen liessen. Er glaubt viel mehr, dass diese Massnahme aus politischen und nicht aus agronomischen Gründen vorgeschlagen wurde. Das finde er heikel, weil dieser Passus für die Landwirtschaft sehr einschneidend sei. «Es fehlt an wissenschaftlichen Daten, um den Beitrag dieser Massnahme an den Zielerreichung des Absenkpfades für Stickstoff richtig zu berechnen.» Monin erwähnt auch technische Lösungen (siehe Kasten), um die Stickstoff-Effizienz in der Landwirtschaft zu erhöhen. Doch diese kämen in der Botschaft leider nicht vor. Mit der Streichung der Toleranzgrenze rechnet das BLW mit einem Rückgang der gehaltenen Grossvieheinheiten um knapp vier Prozent. Allen ist klar, dass die letztlich zu einer tieferen landwirtschaftlichen Produktion und damit zu weniger Selbstversorgung führt. Deshalb bezeichnen viele Landwirte die AP 22+ als «Extensivierungsvorlage», was nicht positiv gemeint ist.

Stickstoff aus Klärschlamm zurückgewinnen
Drei Kläranlagen in der Schweiz können bereits heute dank einer speziellen Technologie Stickstoff aus dem Abwasser zurückgewinnen. Der Flüssigdünger auf Basis von Ammoniumsulfat ist vom BLW zur Verwendung in der Landwirtschaft zugelassen. In der Praxis wird er unter anderem im Cultan-Düngung-Verfahren verwendet, das den Dünger präzise an der Pflanze ablegt. Der Stickstoffdünger aus der Kläranlage ist frei von Schwermetallen und Mikroverunreinigungen. Allerdings ist die Produktion noch zu teuer und nicht konkurrenzfähig mit den Mineraldüngern. Das theoretische nutzbare Potenzial an Stickstoff aus dem Abwasser wäre aber beträchtlich. Ein grosser Teil des importierten Stickstoffs könnte ersetzt werden. Der grosse Vorteil hier: Der Stickstoff bleibt im Kreislauf und entlastet so die Stickstoffbilanz.