Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats (WAK-S) hat beschlossen, die Agrarpolitik 2022+ (AP 22+) zu sistieren. Die Mehrheit der Kommission ist der Auffassung, dass die Botschaft des Bundesrates nur negative Punkte enthalte und dass der Zusatzbericht der Verwaltung nicht zufriedenstellend sei.

SBV: Von einseiter Agrarpolitik zu Ernährungspolitik

Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Der Schweizer Bauernverband (SBV) erklärt in einer Mitteilung, die Vorgehensweise biete die Chance, die einseitige Agrarpolitik zu einer glaubwürdigen Ernährungspolitik umzubauen. Der SBV habe zwar die Rückweisung von AP 22+ gefordert, man wolle sich einer solchen Diskussion aber nicht verschliessen.

Er sieht im Beschluss der WAK-S eine Chance, «dass die Schweiz anstelle einer einseitig auf die Landwirtschaftsbetriebe fokussierte Agrarpolitik endlich eine Diskussion über eine zukunftsgerichtete und kohärente Ernährungspolitik führt. Eine solche müsse von der Heu- bis zur Essgabel greifen und allen Akteuren – auch den Bauernfamilien – wirtschaftliche Perspektiven bieten, so der SBV.

Er erwartet, «dass der Bundesrat mit dem Beschluss der WAK-S nun auch ernsthafte Vorschläge zur Umsetzung des im Jahr 2017 vom Volk mit 78.6 % angenommenen Verfassungsartikels 104a zur Ernährungssicherheit vorlegt». Dabei müsse er insbesondere aufzeigen, wie er eine ausreichende Inlandsversorgung und eine Verbesserung der Nachhaltigkeit bei den importierten Nahrungsmitteln gewährleisten wolle.

Agrarallianz: WAK-S lässt Umwelt im Regen stehen

Deutlich negativer tönt es auf der Seite der Agrarallianz, dem Zusammenschluss von 17 Organisationen entlang der Wertschöpfungskette. Statt die Probleme zu lösen und die austarierten Massnahmen nun endlich in Gesetzesform zu giessen, verlange die WAK-S vom Bundesrat weitere Berichte. Damit lasse die WAK-S die markt- und umweltorientierten Landwirtschaftsbetriebe und ihre Marktpartner im Regen stehen.

Statt Planungssicherheit zu schaffen und den Verfassungsauftrag zur Ernährungssicherheit endlich umzusetzen, riskiere sie nun, dass das Volk via Initiativen Klarheit schafft.

Mit der Sistierung der AP 22+ habe die WAK-S offenbar «dem Druck und den offenen Erpressungsversuchen des Bauernverbands bezüglich Mercosur-Verträgen nachgegeben».

Schwächung des Absenkpfads befürchtet

Mit dem Entscheid werde der Rückgang der Biodiversität, die Nährstoffüberschüsse und die Auswirkungen des Klimawandels auf Jahre hinaus agrarpolitisch ignoriert, so die Agrarallianz. Die Schweiz gerate in Rückstand zur EU, nachdem diese vor kurzem einen ehrgeizigen «Green Deal» beschlossen hat. Damit werde der ganze Sektor geschwächt.

Hinzu komme, dass die Sistierung der AP 22+ den vom Ständerat verlangten und beschlossenen Absenkpfad Pestizide unnötig schwäche. Die Agrarallianz erwarte vom Ständerat, dass er die Beratung der AP 22+ ermöglicht und den Sistierungsantrag ablehnt.

Bio Suisse: Aufwind für die Initiativen

Negativ äussert sich auch Bio Suisse: «Die Probleme mit Pestiziden, Nährstoffüberschüssen, Kraftfutterimporten und beim Tierwohl sind bekannt und zu lösen. Mit ihrer Arbeitsverweigerung riskiert die WAK-S, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit den hängigen Initiativen das Heft in die Hand nehmen.

Statt einer geregelten Weiterentwicklung müssen die Bauern mit Unsicherheiten und abrupten und unberechenbaren Änderungen rechnen», lässt sich Präsident Urs Brändli in einer Mitteilung zitieren.

Umweltverbände: Ernährungssicherheit umsetzen

Die vier Umweltorganisationen Pro Natura, WWF Schweiz, BirdLife Schweiz und Greenpeace Schweiz schliesslich sind «entsetzt» über den Entscheid der WAK-S. «Das heisst, jahrelang soll nichts gegen die gravierenden Missstände in der Landwirtschaft unternommen werden» bilanzieren die vier Verbände, die derzeit mit einer aggressiven Kampagne namens «Agrarlobby stoppen» auf sich aufmerksam machen.

Die Kommission weigere sich damit, den Verfassungsauftrag zur Ernährungssicherheit umzusetzen. Durch die Verzögerung würden die Umweltprobleme weiter zunehmen, die Biodiversität weiter abnehmen und wird der Rückhalt für die Landwirtschaft in der Bevölkerung gefährdet. Fazit: «Inakzeptabel».

Trinkwasser-Initanten: Mehr Sorgen wegen Trinkwasser als wegen Coronavirus

Aus Sicht der Initianten der Trinkwasser-Initiative bedeutet die Rückweisung der AP 22+, dass «Sorgen und Ängste der Bevölkerung ignoriert» werden. Schliesslich habe eine kürzlich von der CSS veröffentlichte Studie gezeigt, dass Antibiotika-Resistenzen und belastetes Trinkwasser der Schweizer Bevölkerung mehr Sorge bereiten, als das Coronavirus.

Angesichts der Totalblockade durch die «vom Bauernverband angeführte Agrarlobby» brauche es eine entscheidende Intervention des Volkes, so die Schlussfolgerung. Damit gemeint ist natürlich eine Annahme der Trinkwasser-Initiative, von der sich die Initianten eine zukunftsfähige Agrarpolitik erhoffen. 

SBLV: Chance zur Verbesserung der AP 22+

Der SBLV hoffe, dass der Bundesrat »wichtige Mängel» in der Botschaft zur AP 22+ nach der Sistierung wird korrigieren können, heisst es in einer Medienmitteilung. Besonders am Herzen liegt dem Verband eine Überarbeitung im Bereich des bäuerlichen Bodenrechts, um unter anderem den Bauernfamilien Perspektiven zu ermöglichen. 

Weitere zu verbessernde Punkte nach Meinung des SBLV sind das vergleichsweise zu tiefe landwirtschaftliche Einkommen, der Rückgang des Selbstversorgungsgrads, der grosse administrative Aufwand und die zusätzliche Anforderungen an die berufliche Ausbildung. Hingegen begrüsste man die vorgesehenen Massnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit für die Ehepartnerinnen und die eingetragenen Partner.