Seit meinem letzten Bericht sind gut drei Monate verstrichen. Meine Zeit in Sambia fühlt sich unfassbar an. Die Abwesenheit eines westeuropäischen Winters stört meinen jahreszeitlichen Rhythmus. Bin ich nun eigentlich schon lange hier? Erst gerade angekommen? Oder beides: schon lange hier und immer noch am Ankommen? Jedenfalls flog mir die Zeit in den letzten Wochen nur so um die Ohren, fast wie die Inswa – fliegende Termiten, die in Sambia geröstet und mit etwas Salz gewürzt verzehrt werden – abends nach den ersten Regenfällen.

Anfangs Februar hat uns der organisatorisch wichtige und fachlich kompetente Assistent des Abteilungsleiters Tierhaltung verlassen. Er baut nun bei einer Organisation in Lusaka ein Biogemüseprojekt auf, verdient deutlich besser und hat kürzere Arbeitszeiten. Das KATC-Management scheint nicht gewillt, seine Stelle neu zu besetzen – vermutlich um Lohnkosten einzusparen. Mitte Februar vermeldete der Abteilungsleiter Tierhaltung dann, dass er sogleich einen Monat Ferien beziehen werde (die er mehr als verdient hatte – er arbeitet ständig Überzeit). Zudem war der ihm übergeordnete Produktionsleiter auch gerade in den Ferien (angeblich seine ersten seit vier Jahren). Schnell war klar, dass ich beim Vieh für zweieinhalb Wochen in die Bresche springen musste. Eine grosse Herausforderung, gelinde gesagt.

 Die Übergabe mit dem Abteilungsleiter Tierhaltung gestaltete sich so, wie ich das zum Teil von meinen Betriebshilfe-Einsätzen in der Schweiz kenne: Man muss dem Bauern die Informationen über Abläufe, behandelte Tiere, anstehende Arbeiten und Erwartungen aus der Nase ziehen (für ihn ist ja alles Routine beziehungsweise selbstverständlich). Zum Glück unterstützte mich Preston, ein junger Angestellter der dritten Hierarchiestufe (wenn ich das richtig sehe, gibt es deren fünf. Aber das ist alles ziemlich kompliziert und in keinem Organigramm erfasst), bei:

 * der Planung, Koordination und Überwachung der Arbeiten mit den drei Herden (Milchkühe, Mutterkühe, Maststiere), die über 200 Tiere umfassen: Melken, Zäunen, Weiden, Tiere-Zählen, Tränken an ein und demselben Brunnen, Wägen der Masttiere, Tauchbad gegen Zecken;

* dem Übersetzen von Anweisungen an die ungelernten, jungen Hirten und an die Melker (die teilweise kein Englisch sprechen);

* dem Milchverkauf an Angestellte und an die lokale Bevölkerung;

* bei Tierbehandlungen und

* bei den (umständlichen) Aufzeichnungen.

Ein etwas konkreterer Einblick in die alltäglichen Herausforderungen am KATC gefällig? Das Morgen- und Nachmittaggemelk jeder der rund 30 laktierenden Kühe wird gewogen und aufgezeichnet. Dafür sind nicht die Melker zuständig, sondern Preston. Dann werden die Gemelke summiert, was dem Leiter Tierhaltung obliegt. Dies ergibt die Kontrolle über die Tagesproduktion. Am Ende des Tages dokumentiert der Leiter die Milchverteilung: Wieviel wurde an die Kälber vertränkt, wieviel an die anderen Kasisi-Institutionen verkauft, wieviel auf Kredit oder gegen Bares an MitarbeiterInnen und an andere KäuferInnen abgegeben? (Es gibt noch einige weitere Bezüger-Kategorien...) Der Saldo sollte dann entweder mit dem Inhalt des Milchkühltanks übereinstimmen, oder aber, wenn die Milch nach dem Nachmittagmelken von Parmalat abgeholt wurde, mit der auf dem Lieferschein ausgewiesenen Menge.

Die Realität ist noch etwas komplizierter, zumal das Gemelk jeder Kuh in Kilogramm gewogen, die Milch für den lokalen Verkauf aber in Zwei-, Zweieinhalb- oder Fünf-Liter-Container ohne Eichmarkierung abgefüllt wird. (Für die Nicht-BäuerInnen: ein Kilogramm Milch entspricht nicht einem Liter Milch.) Der Massstab des Milchkühltanks birgt zudem die Tücke der Umrechnung von Millimeter in Liter – gemäss einer äusserst fragwürdigen Anleitung des Molkereikonzerns Parmalat, die im Milchraum aufgehängt ist und etliche Inkorrektheiten enthält. Fehlerquellen noch und nöcher, die Rechnung geht selten auf. Dies zum Teil auch, weil der Milch hier Füsse wachsen können; sie kann sich ungesehen davonschleichen. Diebstahl in einem Armutskontext hat allerdings wenig mit wesensmässiger „Bösartigkeit“ zu tun. Geklaut wird überwiegend, weil es ein täglicher Kampf ist, sich und seine Familie mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Auch dass sich die Frau, die für mich die Wäsche macht, regelmässig heimlich an meinem Swiss-Style-Müsli (!) vergreift, nehme ich ihr nicht übel. Dennoch: die Mehrheit der Menschen in Kasisi ist trotz der Armut sehr rechtschaffen.

Zurück zu den Kühen. Da warteten ein paar Patientinnen auf mich. Von den ganz „normalen“ Mastiden fange ich jetzt nicht an zu erzählen. Aber ein „Fall“ ist erwähnenswert: Die Kuh DC826. (Die Kühe haben hier keine Namen, obwohl es so schön klingende Ortsnamen wie „Kalingalinga“, „Mutinondo“ oder „Ngwerere“ gibt, die sich doch auch für Kühe eignen würden.) Sie hatte im November eine Fehlgeburt erlitten und war anschliessend nicht in die Milch gekommen. Stattdessen hatte DC826 eine Euterentzündung entwickelt, die mein Vorgesetzter erfolglos mit Antibiotika behandelt hatte. Seither war trotz meines bekundeten Bedenkens, man müsse doch etwas tun – wieso es nicht mal mit einer Aloe vera Injektion ins Euter probieren? – nichts geschehen. Soviel zur Vorgeschichte. Nun war ich also am Drücker. Aber noch bevor ich etwas in die Wege leiten konnte, platzte das Euter der Kuh an der Stelle auf, die vom Hinterbein wund gerieben worden war. Kawumm, ein Loch im Euter! – Sowas hatte ich bisher nur vom Hörensagen gekannt. Es trat eine übel riechende Sauce mit Eiter und Blut aus, später kamen Fetzen abgestorbenen Eutergewebes mit. Zweimal pro Tag wusch nun ein Melker die „Wunde“ mit einer Desinfektionslösung und verteilte dieselbe mit einer Spritze auch im „ausgehöhlten“ Viertel. Danach Wundheilöl. Wie es nun ausschaut, weiss ich nicht – ich komme, als ich diese Zeilen schreibe, gerade aus meinen Ferien zurück (die ich nach der Rückkehr des Produktionsleiters anfangs März beziehen konnte) und habe noch ein paar Tage Lebensmittelvergiftungsurlaub mit den entsprechenden WC-bezogenen Symptomen angehängt.

Ausser besagter DC826 gab es noch eine andere Patientin, die auf dem absteigenden Ast war. Die Kuh DC57 hatte Ende Februar Fieber bekommen. Beim Laufen zog sie ihre Hinterbeinen einigermassen komisch nach, lag überwiegend im Schatten und hatte wenig Appetit. Mein Chef verpasste ihr vor seinem Ferienantritt die obligate Antibiotikaspritze, die nichts nützte. Nach einer ergebnislosen Klauen- und Fremdkörperuntersuchung beschloss ich den Tierarzt beizuziehen. Doch Dr. Zulu, ein Tierarzt der veterinärmedizinischen Schule der Universität von Zambia, mit der das KATC zusammenarbeitet, nahm meine Anrufe zwei Tage nicht entgegen – aus welchen Gründen auch immer. Also musste ich die Nummer eines anderen universitären Tierarztes ausfindig machen, was nicht so schwierig war. Dieser, ein gewisser Dr. Nelson, hatte zwar ein offenes Ohr für mich, aber keine Zeit für die kranke Kuh – er müsse sogleich für ein Forschungsprojekt in die Ostprovinz verreisen. Immerhin konnte mich Dr. Nelson an einen weiteren Berufskollegen von der veterinärmedizinischen Schule, Dr. Ngoma, weiterverweisen. Dr. Ngoma hatte schliesslich Zeit – allerdings gerade kein universitäres Fahrzeug zur Verfügung, um nach Kasisi zu kommen.

Knapp eine Woche nach meinem ersten Konsultationsversuch stand dann Dr. Ngoma aber doch mit weissem Kittel und schwarzen Stiefeln auf dem Gelände. Drei StudentInnen und der in Sambia obligate Fahrer begleiteten ihn – in einem Universitätsbus mit geschätzten 30 Sitzplätzen. Ich glaube, Dr. Ngoma versteht etwas von seinem Beruf. Jedenfalls untersuchte er die unterdessen ziemlich abgemagerte Kuh routiniert und entnahm ihr Blut für die Laboranalyse. Bereits am Nachmittag bekam ich das Resultat telefonisch mitgeteilt: Anaplasmose, auf Deutsch Gallenseuche, eine Krankheit, bei der die roten Blutkörperchen von einem Parasiten angegriffen und zerstört werden. Die Folge ist eine Blutarmut, die zum Tod führen kann. Übertragen werden die Parasiten vor allem durch Zecken. Das Gute an der Geschichte: Der Befund veranlasste den KATC-Direktor dazu, unser Anliegen, das Tauchbad gegen Zecken müsse unbedingt erneuert werden, endlich ernst zu nehmen. Auf jeden Fall fuhr ich am folgenden Morgen sogleich nach Lusaka, besorgte die zwei verschriebenen Medikamente und verabreichte der Patientin am selben Tag die verordnete Dosis. Nun hoffe ich, dass die Kuh mit der Nummer DC57 wieder putzmunter mit ihren Kolleginnen auf der Weide steht.

Die Geschichte von der Odyssee, um Molasse für das Kraftfutter der Milchkühe zu kaufen, werde ich vielleicht ein andermal erzählen. Und diejenige über das Gebastel mit dem steckerlosen Stromkabel der Milchpumpe des Parmalat-Lastwagens überlasse ich Ihrer Vorstellung. Nicht unterdrücken kann ich einen abschliessenden Spendenhinweis:

Wir wollen trotz Hindernissen vorwärts machen mit der Milchverarbeitung am KATC. Nachdem ich mich auf eine professionell geplante und neu zu bauende Molkerei mit allem Drum und Dran eingeschossen hatte, musste ich mir angesichts des schwierigen Umfeldes in Sambia und am KATC eingestehen: das Projekt ist zu ambitioniert, die Hürden sind zu hoch und die Kosten für hiesige Verhältnisse exorbitant. Umdenken war angesagt. Also legte ich das erstellte „Deluxe“-Konzept sowie die Kontakte zu einer in Molkereiplanung spezialisierten Firma aus der Schweiz auf Eis und erarbeitete eine Light-Version des Milchverarbeitungs- und Direktvermarktungskonzepts. Um das nötige „Kleingeld“ für die baulichen Massnahmen und die Einrichtung einer redimensionierten Molkerei zusammenzubekommen, habe ich kürzlich ein Online-Crowdfunding gestartet.

Mehr über das Projekt „Eine Molkerei für Kasisi“, die Funktionsweise von Crowdfunding sowie den Zugang zum Spendenportal finden Sie hier. Das dazugehörende Video, dessen Produktion mich unzählige Stunden, tonnenweise Nerven und einen gehörigen Betriebssystem-Schaden mit schwerwiegenden Konsequenzen gekostet hat, dürfen Sie gerne mal anschauen. (Deutsche Untertitel für die Englisch gesprochenen Passagen sind unten rechts auf der Funktionsleiste aktivierbar.)

#YT0#

Sie haben bestimmt schon von Sisyphos gehört, dieser Figur aus einer griechischen Sage. Als Strafe der Götter muss Sisyphos einen Felsblock den Berg hinaufwälzen, der ihm kurz vor dem Gipfel immer wieder ins Tal stürzt. Von Albert Camus, dem berühmten französischen Existentialisten, stammt die Interpretation, dass man sich Sisyphos glücklich vorstellen müsse. Morgen rolle ich den Stein meines Glücks wieder den Berg hinauf.

Markus Schär