Jetzt, nach vier Monaten, bin ich so richtig angekommen in Sambia, und das ist alles andere als entspannend. Die Arbeit und das Privatleben bestehen aus lauter Baustellen, und täglich kann eine neue hinzukommen. Nur selten lässt sich etwas wie geplant erledigen. Alles ist geprägt durch Unsicherheit und Unverlässlichkeit in einem sehr weitreichenden und grundlegenden Sinn. Wobei ich in Kasisi für sambische Verhältnisse noch an einem gut organisierten Ort gelandet bin.

Mein ehemaliger Lehrmeister in der Schweiz meinte einst halb ironisch, Landwirtschaft sei nur eine Frage der Logistik. Was aber, wenn die Logistik versagt? Wenn auf die vor- und nachgelagerten Leistungen kein Verlass ist? In Sambia wird für mich handfest erfahrbar, was das Wort „Krise“ bedeutet, auch wenn ich als Schweizer natürlich zu den Privilegierten gehöre. „Krise“ ist hier allgegenwärtig und fast schon Normalzustand.

Moderne Abhängigkeiten - oder wenn die Milch sauer wird

Die Milchabfuhr zum Beispiel ist regelmässig unregelmässig. Mal kommt der Parmalat-Milchsammelwagen drei Tage hintereinander nicht, dann aber schon am nächsten Tag wieder – jeweils ohne Voranmeldung. Oder aber mitten in der Nacht. Einmal blieben wir gar fünf Tage lang auf der Milch sitzen. Das ist „business as usual“ in Sambia.

Erschwerend kommt hinzu, dass in Sambia seit Ende Juni Stromrationierung herrscht: Der staatliche Energiekonzern ZESCO stellt täglich für etwa acht Stunden den Strom ab. In Kasisi meistens zwischen 6 und 14 Uhr, also zur potenziell produktivsten Tageszeit. Da der Milchkühltank am Stromnetz hängt, wird das Kühlen der Milch zum Problem. Dies umso mehr, als die sambische Hitzezeit vor der Tür steht. Demnächst wird das Thermometer tagsüber auf 35° C steigen, und nachts kühlt es nur auf etwa 20° C ab.

Um die Qualität zu prüfen, unterzieht der Mann von Parmalat die Milch vor der Annahme jeweils einem Ethanoltest. Fällt dieser negativ aus, nimmt Parmalat die Milch. Das kann aber immer noch bedeuten, dass sie aufgrund einer Laboranalyse deklassiert und mit einem geringeren Preis abgegolten wird. Die Energiekrise schlägt sich dann direkt aufs landwirtschaftliche Einkommen nieder.

Ist die Qualitätshürde überwunden, gilt es ein Logistikproblem zu lösen. Nicht selten fährt der Milchtanklastwagen während der „Strompause“ vor. Dann müssen Träger und Kessel organisiert werden, um die nicht arbeitende, da extern gespiesene Vakuumpumpe des Lastwagens zu ersetzen. Die Mitarbeiter bilden eine Kette und befördern die Milch in Kesseln aus dem Kühltank zur Luke des Sammeltanks, in den sie geleert wird.

Um das Verlustrisiko möglichst klein zu halten, schütten wir kuhwarme Milch nur in den Kühltank, wenn Strom da ist. Andernfalls werden die Kannen mit der frischen Milch in den gut isolierten Kühler gestellt – und erst in die Gesamtmilch im Kühltank entleert, wenn dieser seiner Bestimmung wieder nachgehen kann.

Dauert es zu lange bis zur nächsten Milchannahme durch Parmalat, gibt es für die Leute in Kasisi Sauermilch zu kaufen. Viele SambierInnen mögen spontan gesäuerte Milch. Ein Mitarbeiter brachte kürzlich einen sicht- und riechbar über längere Zeit nicht gereinigten Plastikcontainer zum Melkstand und wollte Milch kaufen. Dem Milchverkäufer sagte er, der Container dürfe ja nicht ausgespült werden, er brauche schliesslich eine Starterkultur für seine Sauermilch.

Saure Milch hin oder her – das Beispiel zeigt einen Ausschnitt der Problematik, in einem sogenannten Entwicklungsland von der maroden zentralstaatlichen Energieversorgung abhängig zu sein. Die Solarenergie steckt in Sambia leider noch in den Kinderschuhen. 

Mit Brandrodung und Kunstdünger in die Sackgasse

Anders gestaltet sich die Situation im Busch, wo viele Dörfer und Höfe nicht ans Stromnetz angeschlossen sind. Hier beruht die Energieversorgung überwiegend auf Sonnenenergie (Photosynthese, Pflanzenwachstum) und auf Muskelkraft von Ochsen und Menschen. Zum Kochen wird in der Regel Holzkohle verwendet. Das Wasser wird von Hand aus Ziehbrunnen gehoben oder zu Fuss von Quellen geholt. Selten sind Bohrlöcher mit einer windbetriebenen Pumpe zu sehen. 

Allerdings ist eine andere moderne Energiequelle in den sambischen Busch vorgedrungen: das Erdöl. Zwar besitzen die wenigsten ein Auto oder eine mit Diesel betriebene Hammermühle. Doch viele AckerbäuerInnen düngen ihren Mais mit Kunstdünger, manche kaufen auch Hybridsaatgut. Zur synthetischen Herstellung von einem Kilogramm Stickstoffdünger ist bekanntlich ein Erdöläquivalent von einem Liter Erdöl nötig.

Traditionell wird der Mais im Chitemene-System angebaut: Der Busch wird abgeholzt und brandgerodet, die Asche fungiert als Dünger und ermöglicht Maisanbau für ein oder zwei Jahre. Danach müsste der ausgelaugte Boden etwa 25 Jahre brach liegen, um seine Fruchtbarkeit wiederzuerlangen. Wo der Bevölkerungsdruck in Sambia wächst, wird bereits nach sieben Jahren wieder angebaut, was den Boden dauerhaft schädigt und die Ernteerträge laufend schmälert. Winderosion in der Trockenzeit und Nährstoffauswaschung in der Regenzeit tragen zum Abwärtstrend der Bodenfruchtbarkeit bei.

Wer eilt den kaum gebildeten BäuerInnen in dieser Situation „zu Hilfe“? Kürzlich hatte ich an einer Landwirtschaftsausstellung in einem Dorf im Chongwe District ein unerwartetes Wiedersehen mit der Schweiz. Zwischen den Ständen von BäuerInnenkooperativen, die ihre Erzeugnisse ausstellten, priesen Mitarbeiter einer Tochterfirma des Basler Agrochemiekonzerns Syngenta Hybridsaatgut, Kunstdünger und Pestizide an – unter dem Motto „Transforming agriculture together“ („Die Landwirtschaft gemeinsam umgestalten“).

Das Interesse an den Wundermitteln der Agrokonzerne (ausserdem mit von der Partie: der US-amerikanische Multi Pioneer) war gross unter den Anwesenden, die vollmundigen Versprechen der Werbung, die farbigen Verpackungen und Logos kommen hier gut an. Mit Marktpräsenz, Sponsoring und Preisverleihungen versucht Syngenta die Herzen, Köpfe und schliesslich die Geldbörsen der sambischen BäuerInnen zu erobern. 

Das schwarze Gold der BäuerInnen

Auf derselben Landwirtschaftsausstellung traf ich auch einen unscheinbaren, älteren Bauern namens Alban, der den Stand seiner Kooperative betreute. Ich kam mit ihm ins Gespräch, da es mich interessierte, warum er neben Saatgut von Leguminosen zur Gründüngung auch in Säcken abgepackten Kuh- und Hühnermist sowie Mistkompost ausstellte. „Weil Gründüngungen, Mist und Kompost die Schlüssel zur Bodenfruchtbarkeit und zur Ernährungssicherheit sind. Kunstdünger hingegen kostet Geld, macht uns von Agrokonzernen abhängig und schadet dem Boden.“ Diese Antwort hätte auch von einem der Schweizer Biopioniere stammen können.

Mein Bedenken, die petrochemische Landwirtschaft werde sich aufgrund ihrer PR-Schlagkraft und wegen Subventionen vermutlich auch in Sambia durchsetzen, schlug er mit der Überzeugung in den Wind, früher oder später würden alle sambischen BäuerInnen Biolandwirtschaft betreiben und gut davon leben können. Gerne hätte ich mich von seinem Optimismus anstecken lassen.

Markus Schär