Sine ist eine ältere Frau, die allein in einem Maiensäss in den Bergen lebt. Sie sammelt Kräuter, kennt sich mit deren Heilkräften aus und ist vertraut mit den wild lebenden Tieren in der Umgebung. Mit anderen Menschen hingegen hat Sine wenig Kontakt, ausser bei den seltenen Gängen ins Dorf, um Vorräte einzukaufen.

Eine Aussenseiterin in den Bergen

Aber das war nicht immer so. Sines Lebensgeschichte hat ganz woanders begonnen, in einer Sippe von Jenischen, in die sie hineingeboren war. Als kleines Mädchen wurde sie von den Behörden aus ihrer Familie herausgerissen. Glück im Unglück war, dass sie eine Pflegemutter erhielt, die sie wie eine eigene Tochter umsorgte. Nach der Lehre in einem Altersheim kam Sine in das Bergdorf, wo sie einen jungen Bauern heiratete. Als die gewünschten Kinder ausblieben und die Beziehung zerbrach, zog sie sich sie in ein Maiensäss zurück. Einmal mehr übernahm sie die Rolle der Aussenseiterin.

Inzwischen sind Jahre vergangen. Während einer Blutmondnacht spürt Sine, dass bald etwas Grundlegendes passieren wird. Kurz darauf erspäht sie draussen bei Schnee und Dunkelheit eine Gestalt. Sine nimmt den erschöpften Mann mit ins Haus. Dieser heisst Nils und ist von seiner gescheiterten Ehe und dem Leben als Banker davongelaufen. Die Begegnung mit dem Gast, der nirgends hingehört, rüttelt Sines eigene Geschichte auf und stösst eine neue Dynamik an.

Eine dynamische Entwicklung bahnt sich an

Temporeich und in kurzen, dichten Episoden führt Autorin Regula Caviezel durch die Erzählung. Dabei wechselt sie rhythmisch zwischen Vergangenheit, Erin­nerung, Traumgeschehen und Gegenwart, auch bringt sie dazwischen mystische Elemente ein, bei denen die Abgrenzung zwischen Realität und Traum unklar bleiben. So taucht immer wieder «Die Silberne» auf, eine Blindschleiche, mit welcher Sine als eine Art Krafttier besonders verbunden ist. Durch die verwobene Erzählweise erhält der Leser nach und nach Einblick in die Zusammenhänge.

Im Wechsel zwischen Nähe und Distanz, Begehren und Abscheu, Spannung und Lösung verläuft die Geschichte, die inmitten rauer Natur in einer abgeschiedenen Bergwelt spielt, nicht immer linear. Die 128 Seiten sind dicht beschrieben, kommen ohne überflüssige Worte aus und bieten ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Regula Caviezel: Die Silberne. ­Antium Verlag, 2020. Taschenbuch, 128 Seiten. Fr. 21.50.

 

 

Zur Autorin 

Regula Caviezel (*1951) wuchs auf einem Bauernhof im Kanton Thurgau auf. Bereits in ihrer Kindheit besuchte sie Konzerte, Vernissagen von Künstlern und las unter anderem Puschkin und Tolstoi. Nach dem Kindergartenseminar verheiratete sie sich nach Urmein am Heinzenberg GR, wo sie mit ihrem Mann bis heute als Bergbäuerin lebt und drei Kinder grossgezogen hat. Nebst dem Schreiben beschäftigt sie sich mit Bildweben, Malerei, dem Querflötenspiel. Weitere Interessen gelten den Heilkräutern und der Lehre des Paracelsus. Bisherige Publikationen: Erzählband «Gletscherströme» im Südostschweiz-Verlag, 2013; Bilderbuch «Lina und das Geheimnis der Hopi-Indianer» im Verlag Linard Bardill, 2013.