Jessica Seatter nimmt die Hand von klein Lewis. Sie führt ihn die staubige Einfahrt zum amerikanischen Briefkasten hinauf. Eine rote Blechfahne zeigt nach oben. Post ist da für die Triple Creek Farm. Sand knirscht zwischen den nackten Füssen und den Flipflops von Sohn und Mutter. Der Wind schnellt blonde Haare um die Augen; jagt den Strassenstaub über das Farmgelände, das umrahmt ist von einem Fluss, Wald und Getreidefeldern. 

Manchmal etwas alleine

Es könnte einsam sein auf dieser Farm, 30 Kilometer von der nächsten Stadt, Westlock CN, entfernt. Wo in der Schweiz ein Dorf steht, gibt es im kanadischen Staat Alberta höchstens eine Farm. Jessica Seatter ist es wohl hier. Die hochgewachsene schlanke Frau wuchs als Älteste von fünf Kinder auf einer Schweinefarm in der Gegend auf. «Ich wollte immer auf dem Land wohnen», sagt sie. «Ich brauche die Weite, das Leben im Zyklus der Natur.» Und doch gibt es Zeiten, in denen sie sich alleine fühlt. Während der Saat und der Ernte ist ihr Mann Luke Seatter tagelang auf dem Feld. Sie muss alleine mit ihren vier kleinen Kindern zurechtkommen. Da kam schon der Gedanke, es wäre doch einfacher, in einem Einfamilienhaus in der Stadt zu leben und Luke hätte eine geregelte Arbeit. 

Der Gedanke ist schnell wieder weggefegt. Die junge Frau wurde ja Lehrerin, weil sie diese Tätigkeit auf dem Land ausüben kann. Den Beruf gab sie auf, als das erste Kind kam. Er macht sich heute jedoch noch bemerkbar in der reichhaltigen Kinderbibliothek der Stube. «Bird Songs» (Vogellieder) und «Farm Animals» (Bauernhoftiere) sind die aktuellen Lektüren. 

Beim Grosi ist es lustig

Die Seatter-Kinder Will (7), Vera (5), Lewis (3) und die neunmonatige Rose geniessen den weiten Auslauf um das Farmhaus. Trampolin, Schaukel und der nahe Wald ziehen nach draussen. Veras neues «Disney»-Velo steht neben Wills blauem Fahrrad, die Helme an die Lenker gehängt. Damit fährt es sich schnell zu Grosi Valerie. Diese wohnt am anderen Ende des Hofplatzes, ausser Sichtweite. Jessica Seatter findet es bisweilen schwierig, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen Distanz und Nähe. Wie oft soll sie die Kinder gehen lassen? Beim Grosi ist es eben lustig. Diese nimmt sich immer Zeit und zu Hause ist es vielleicht gerade etwas langweilig. «Bin ich eine schlechte Mutter, wenn ich sie nicht immer ziehen lasse?» 

Valerie Seatter, die Schwiegermutter, musste wie Jessica auf der Farm mit ihrer Schwiegermutter zurechtkommen. «Es muss für euch stimmen», sagte sie deshalb zu ihrer Schwiegertochter. Diese beginnt, das Haus und den Umschwung für sich einzunehmen. So verschwanden Valeries liebevoll gepflegten 
Blumenbeete. «Ich bin froh, dass ich die Freiheit habe», so Jessica Seatter.

Will war ein Baby als Luke und Jessica Seatter auf die Farm zogen. Im ersten Herbst kam sie sich während der Getreideernte, die gut ein Monat oder mehr dauern kann, als Strohwitwe vor. Im folgenden Jahr, schwanger mit Vera, ging es ihr nicht besser. Eine gewisse Bitterkeit überfiel sie, dass Luke sie so alleine liess, und sie nebst der Beaufsichtigung der Kinder und dem Haushalt ihm noch das Essen nachtragen sollte. Irgendwann sagte sie: «Halt, ich kann das!» Es war eine heilsame Gesinnungswende, die negative Gedanken in positive Energie umwandelte. Jessica Seatter gründete eine Gruppe für Farmmütter. Alle zwei Wochen kommen Frauen aus der Gegend im örtlichen Kirchgemeindehaus zusammen. Die Grosis hüten die Kleinkinder während deren Mütter sich ein Video über die Belangen des Mutterseins anschauen und anschliessend das Thema diskutieren. «Wir sind keine Kaffeeklatsch- Gruppe!», konstatiert die Initiantin. 

Die Rolle der Unterstützerin

Seit dem letzten Frühjahr gehört die Farm Luke und Jessica Seatter. Sie grenzt an den Pembina Fluss und einige kleinere Bäche fliessen durch die Felder. Der Erhalt dieser Landschaft liegt dem Ehepaar Seatter am Herzen. Nachhaltige Landwirtschaft wird auch in Kanada immer stärker gefordert. «Zur Zeit besteht meine Hauptaufgabe noch darin, Luke in seiner Rolle als Manager zu unterstützen – und ihn zu füttern.» Einem teuren Landerwerb stimmte sie voll zu. «Mit der Zeit möchte ich die Buchhaltung übernehmen. Zahlen interessieren mich sehr.» Sie besucht Bauernmärkte und studiert Literatur über Direktvermarkung.  

«Manchmal beschleicht mich eine gewisse Angst, einfach in den Fussstapfen der Schwiegereltern weiter zu machen», bekennt Jessica Seatter, «dass wir die Sache nicht selbst gestalten.» Es ist ihr aber bewusst, dass die Gelegenheit, den Hof zu übernehmen, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk ist. «Die Schwiegereltern wollen ja, dass wir erfolgreich sind.» Die blauen Augen blitzen auf. «Diese Farm bietet uns so viele Möglichkeiten. Es gibt so Vieles, das wir unternehmen könnten! Ich freue mich darauf!» 

Marianne Stamm