Der Ziegenstall ist jetzt, kurz vor dem Mittag, schön kühl. Die Ziegen liegen im Stroh, kauen wieder und schauen schläfrig den Besuchern entgegen. Christian Oesch nimmt die Gabel, putzt Mist vom Läger, beim hintersten Platz zuckt er mit den Schultern. Seit einer Woche ist dieser Platz leer und Christian Oesch wütend. Wütend über die Studierten in Bern unten, die keine Ahnung haben, wie das Leben auf der Alp funktioniert und doch dreinreden wollen: «Da fehlt in meinen Augen der gesunde Menschenverstand. Die haben noch nie mit harter Handarbeit ihren Lebensunterhalt verdient, sonst wüssten sie, was es bedeutet, wenn der Wolf deine Ziege bei lebendigem Leib zu einem Viertel auffrisst». Seine Stimme wird laut, als er am Küchentisch erzählt was er davon hält, wenn ein paar Wildtierbiologen denken, man könne mit Wolf und Bär die Welt verbessern. «Ich lade sie gerne hierher ein, diese Wolfbefürworter, dann erkläre ich ihnen, wie das Leben auf der Alp wirklich ist», erzürnt er sich, «solange man nur vom Wolf hört, geht das einem nicht nahe, aber wenn er dein Tier frisst, dann zerreisst es dir das Herz».

16 Stunden harte Handarbeit

«Im Tourismus die schönen Landschaften verkaufen, das will man, aber dass es diese Landschaften nur gibt, weil wir hier oben im Sommer jeden Tag 16 Stunden harte Handarbeit verrichten, das scheint man nicht zu wissen. Und nun macht man uns mit dem Wolf noch einen Haufen mehr Arbeit, während das Einkommen laufend kleiner wird», sagt Christian Oesch. Man merkt, dieser Mann ist sich gewohnt zu reden. Seine Sätze sind druckreif, nach 20 Jahren in der Gemeinderegierung und 16 Jahren im Grossrat. Und er ist es sich gewohnt, dass Bergbauern in Bern belächelt werden, das erlebte er auch 1990, als er in den Grossrat kam. Darum will er jetzt den Kropf leeren.

Tiere mit mulmigem Gefühl im Bauch zählen

Hart sei es gewesen, zu politisieren und gleichzeitig den Betrieb zu bewirtschaften. Sieben Jahre hätten er und seine Frau den Betrieb alleine geführt, bis der Jüngste der vier Söhne, Michael, einstieg. Damit er es leichter hat, helfen Christian und seine Frau weiterhin mit. Jedoch schlafen sie nun den ersten Sommer nicht mehr auf der Alp, sondern bleiben im Tal. Doch seit der Wolf da war, sind die Nächte unruhig geworden und morgens werden die Tiere mit mulmigem Gefühl gezählt.

Eine grosse Veantwortung

Den 39. Sommer verbringen sie hier oben, davor 35 Jahre auf einem Schafberg. «Früher hatten wir selbst Ziegen, jetzt sömmere ich fremde Tiere, eine grosse Verantwortung», erzählt Christian Oesch. Peinlich sei es, einem Züchter zu sagen, man habe eines seiner Tiere verloren und dann noch das beste. Und weil der Berg und die Pflege gut sind, bringen die Züchter ihre wertvollsten Tiere in den Vorderen Schöriz. Bis jetzt. Jetzt fehlt eines. Wurde am Montag vergangener Woche vom Wolf gerissen. Direkt neben dem Stall fanden sie es. Das Vorderviertel abgenagt.

Michael Oesch setzt sich dazu, trinkt kalten Tee: «Wir sehen hier in der Gegend zwei Wölfe, einen grossen kräftigen und einen kleinen schlanken. Das könnte ein Jungtier sein. Was passiert, wenn die hier ein Rudel bilden und uns hinter die Rinder gehen?» Bereits ist eines seiner Rinder auf mysteriöse Art und Weise in den Tod gestürzt. Und sein Vater ergänzt: «Wir werden brandschwarz angelogen, was den Wolf angeht. Den M76 gibt es längst nicht mehr und nie findet man bei den DNA-Analysen heraus, um welche Tiere es sich hier handelt?»

Wolf bei den Häusern gesichtet

«Meine Tochter ist sieben Jahre alt und läuft morgens auf dem Schulweg eine halbe Stunde alleine durch den Wald», erzählt Michael Oesch. Mehr als ihr einen dicken Pänggel mitgeben und hoffen, dass der Wolf wirklich scheu sei, könne er nicht. Doch werde dieser immer wieder nahe der Häuser gesichtet. Einmal gar auf dem Hausplatz des Heimbetriebs. «In der Stadt jammern sie, wenn der Bus fünf Minuten zu spät kommt und wir hier oben sollen nach ihrem Willen mit dem Wolf zurechtkommen», ergänzt der Grossvater.

Das Thema mit der Verbuschung

Die Ziege sei früher die Kuh des armen Mannes gewesen. Darum habe man den Wolf damals ausgerottet, weil er die Ziegen tötete und den Bergbauern damit die Lebensgrundlage raubte: «Vor hundertfünfzig Jahren konnte sich längst nicht jeder eine Kuh leisten, darum hatte man Ziegen», erzählt Christian Oesch. Bereits damals habe der Wolf keinen Platz mehr gehabt in der Zivilisation und heute habe es ja noch viel mehr Menschen. Doch die Ziege erfülle auch eine weitere wichtige Funktion in der Alpwirtschaft, indem sie die Weiden frei von Büschen halte. Darum könne man sie auch nicht einfach einzäunen, damit sie der Wolf nicht erwische. «Der Ziegenkäse, der ein kleines Nebeneinkommen gibt, kommt erst an zweiter Stelle, aber mit dem Entbuschen nimmt die Ziege den Alphirten eine Menge Arbeit ab», betont Christian Oesch.

Viel Herzblut

Und noch etwas möchte er gesagt haben: «Ich züchte mein Leben lang Tiere. Zuerst Schafe, dann Kühe. Es ist ein Hohn, wenn man für ein Tier, hinter dem vielleicht dreissig Jahre Zuchtarbeit steckt, als Entschädigung den Metzgpreis geboten bekommt. Jemand, der so den Wert eines Tieres bemessen möchte, hat nichts verstanden», betont er. Ob auf dem Vorderen Schöriz im kommenden Sommer Ziegen weiden werden und ob es den feinen Schöriz-Ziegenkäse noch geben wird, das entscheidet der Wolf: «Wenn er noch eine meiner Ziegen reisst, dann räumen wir die Tiere ab, dann mag ich nicht mehr», so Christian Oesch.