Pius kam am 25. Februar 1990 bei Urs Benninger in Salvenach FR zur Welt. Viehzüchter und -Händler Hans Schenk aus Heimberg BE kaufte den Stier samt dessen Mutter Lydia. Sie liess er an Viehschauen präsentieren, den Stier verkaufte er im Sommer 1991 an den den Schweizerischen Verband für künstliche Besamung (SVKB).

Pius war ein gewöhnlicher Zuchtstier, als er in der Besamungs-Station in Mülligen AG seinen Dienst antrat. Wie jeder Zuchtstier sollte er für die Produktion von 30'000 Spermadosen einen Bock bespringen, bevor er auf die Schlachtbank geführt wurde. Nur ein Problem musste noch beseitigt werden: Der Name Pius war schon vergeben. Ohne Hans Schenk zu fragen, änderte der SVKB den Namen. Aus Pius wurde Pickel. Und aus dem Red-Holstein-Stier Pickel wurde ein Star, der bis heute die Schweizer Viehzucht prägt.

Lydia müsste man weiterzüchten

Die Mutter von Pius - oder eben Pickel - war Lydia, eine Tino-Tochter. "Sie war eine fantastische Kuh", erinnert sich Christoph Gerber. Gerber war bis 2004 Direktor der Kommission Schweizerischer Viehzuchtverbände (KSV) und der Genetik-Firma Swissgenetics, die aus dem SVKB entstanden ist. Lydia sah er das erste Mal an der Ausstellung des Schweizerischen Red-Holstein-Komitees in Burgdorf BE. Das war 1992.
Gerber wusste, dass Lydia dem Viehhändler Hans Schenk gehörte und dachte sich, dass es sich lohnen könnte, von ihr einen Stier für die Zucht einzusetzen. Gerber rief noch am selben Abend Schenk an und wollte wissen, ob er einen Stier von Lydia habe, den die KSV eventuell kaufen könne. Gerber wollte einen roten Stier, den er in das Genetikprogramm "Esperanza" aufnehmen konnte, das eben erst anlief. Schenk verwies auf Pickel, der bereits in Mülligen auf der KB-Station sei.

Gerber war begeistert, besprach mit Schenk die Details. Man einigte sich darauf, dass Pickel je zur Hälfte der KSV und Hans Schenk gehören soll. Zunächst musste aber Schenk warten, bis Pickel die 30'000 Spermadosen produziert hat. Als er von der KB-Station benachrichtigt wird, kauft er Pickel umgehend zurück. Der Preis dürfte bei rund 3000 Franken gelegen haben. So genau kann das Gerber nicht mehr sagen. Kurz darauf steigt die KSV als Miteigentümer ein, Pickel findet zunächst in Huttwil BE, dann in Märchligen BE und später in La Corbaz FR Unterschlupf, darf als Natursprung-Stier arbeiten. Es sollte zwei Jahre dauern, bis Pickel wieder nach Mülligen einrückt.

Pickel kommt an und schlägt ein

1993 wurden die ersten Töchter von Pickel linear beschrieben und auf ihren Zuchtwert eingeschätzt, Pickel selbst erhielt 1995 seinen ersten Zuchtwert. "Und dann ist es losgegangen", sagt Christoph Gerber. 1994 konnte eine Pickel-Tochter an der Ausstellung in Burgdorf für 8000 Franken verkauft werden. Zwei Jahre später, an der Nachzuchtschau in Burgdorf, wusste man bereits, dass Pickel etwas Besonderes ist. In der Zeitschrift "Schweizer Fleckvieh" steht: "Mit Pickel hat die Schweizer Genetik den weltweit komplettesten roten Stier der Gegenwart hervorgebracht." Von Pickel wird nichts weniger erwartet, als eine "nachhaltige Veränderung" der Qualität der Schweizer Tierbestände.
KSV und Hans Schenk schicken Pickel erneut nach Mülligen zur Spermaproduktion. Insgesamt werden bis am Schluss über 300'000 Dosen Sperma produziert.

Als  1999 an der Nachtzuchtschau in Bulle 37 Pickel-Töchter im Ring standen, war der Stier mit dem unmöglichen Namen eine lebende Legende; der Roger Federer der Red-Holstein-Genetik gewissermassen. Christoph Gerber selbst schreibt in seinen Erinnerungen von einem Weltrekord. Von da an nimmt die Pickel-Story ihren Lauf. Pickel selbst war zu der Zeit schon im Ruhestand. Man wollte den Stier nicht sofort schlachten; nach allem, was er möglich machte. Pickel verbrachte die letzten zwei Jahre seines Lebens in La Corbaz FR. Am 1. Oktober 2001 schliesslich wurde er "zu einem guten Preis" auf die Schlachtbank geführt.

Die grössten Erfolge kommen spät

Zwar war früh klar, dass Pickel ein hervorragender Kuhmacher war. Dass er auch sehr langlebige Kühe vorbringt, zeigte sich erst nach 2003. Damals knackten die ersten Pickel-Töchter die Marke von 100'000 kg Lebensleistung. Es gibt wenig Stiere, die so viele 100'000er-Kühe hervorbrachten, wie es Pickel tat. Weil seine Töchter aber etwas Zeit brauchten, und erst in der dritten, vierten oder fünften Laktation ihr Leistungsmaximum erreichten, konnte Pickel für seine grössten Erfolge erst posthum geehrt werden.
Wie Samuel Krähenbühl von Swissgenetics schreibt, konnte Pickel bei richtiger Anpaarung im Bereich Typ "hervorragende Resultate" bringen.

Insbesondere, wenn Pickel-Töchter mit dem kanadischen Stier Stbvq Rubens-ET angepaart wurde, "dann gab es in der nächsten Generation erst recht hervorragende Euter." So gehören zu seinen Nachkommen Kühe wie Plattery Rubens Galante, die Europameisterin bei den Red-Holstein-Kühen 2004, die "legendäre" Rubens Ingrid, die 2006 als Kategoriensiegerin an der Europameisterschaft 2006 den Ring verliess und laut Krähenbühl aktuell eine Lebensleistung von 171'289 kg Milch hat. Pickel ist bei beiden Kühen der Grossvater mütterlicherseits; im Fachjargon spricht man vom Muttersvater. Als Pickel-Tochter zu Ruhm und Ehre schaffte es Morandale Pickel Chicoutimi. Sie wurde 2006 im deutschen Oldenburg Red-Holstein-Europameisterin. Pickels Meisterstück sei das gewesen, sagen die Experten bis heute.

 

Pickel und die schöpferische Zerstörung

Die Geschichte von Pickel zeigt sehr deutlich: Wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung ein echtes Bedürfnis befriedigt, ist Veränderung möglich. Die Rolle der Unternehmen ist jedoch unterschiedlich und abhängig vom jeweiligen Markt: in gesättigten Märkten müssen die Unternehmen nämlich die Kannibalisierung ihres alten Angebots durch das neue Angebot zulassen. In wachsenden Märkten indes müssen Unternehmen in der Lage sein, das zusätzliche Angebot im nachgefragten Umfang zur Verfügung zu stellen. Bei Pickel war vor allem letzteres der Fall - die KSV und der SVKB waren mit Pickel nämlich in der Lage, das Genetik-Angebot zu differenzieren und konnten der wachsenden Nachfrage gerecht werden. Und so wie Pickel seinerzeit ältere Stiere verdrängt hatte, wurde seine Genetik durch jene von jüngeren Stieren ersetzt. In der Wirtschaftstheorie wird dieser Prozess der stetigen Erneuerung kreative oder schöpferische Zerstörung genannt.

 

Wäre nicht das wohl grösste Samenlager der Schweizer Viehzucht-Geschichte mit Pickels Sperma angelegt worden, hätten Gerber und Schenk den Stier nicht vor der Schlachtbank gerettet, der Stier wäre längst verschwunden. Bei Pickel war es jedoch anders; er ist im Katalog von Swissgenetics nach wie vor aufgeführt. Für 38 Franken kann eine Spermadose gekauft werden. So kommen heute noch direkte Pickel-Nachkommen zur Welt; obwohl Pickel nächstes Jahr 30 Jahre alt werden würde und obwohl sich die Viehzucht in den letzten 20 Jahren stark verändert hat. Pickel ist immer noch im Sortiment.

Pickel wirkt bis heute

Auf Pickel gehen alleine in der Schweiz fast 44'000 Töchter auf 10'000 Betrieben zurück, der Gesamtzuchtwert ISET liegt bei 957; mit einem Euterindex von 106 ist Pickel nach wie vor ein Eutermacher. Das ist bei 9880 beschriebenen Töchtern bemerkenswert. Pickel hebt sich laut Nicolas Berger von Swissherdbook klar von seinen Altersgenossen ab.
Deutlich höher ist sogar noch die Töchterfruchtbarkeit. Der Indexwert liegt bei 113 und damit klar über dem Durchschnitt. "seine männliche Fruchtbarkeit ist sogar legendär", schreibt Samuel Krähenbühl von Swissgenetics. Auch bei Swissherdbook weiss man, dass auf Pickel gezählt wird, wenn eine Kuh sich nur schwer belegen lässt. "Mit Pickel werden alle trächtig", so etwa Nicolas Berger. Pickel war "in vielerlei Hinsicht ein Stier seiner Zeit", sagt Samuel Krähenbühl.

Es waren die funktionellen Merkmale, die Pickel zum Durchbruch verhalfen. Pickels Töchter waren gesund, fruchtbar und gaben für damalige Verhältnisse viel Milch mit guten Eiweiss- und Fettgehalten. "Es hat damals keinen vergleichbaren Stier gegeben, der so viele gute Eigenschaften gebracht hat", sagt Gerber dazu. Nicolas Berger sagt, dass Pickel "dem damaligen Exterieur-Niveau der Schweizer Red-Holstein-Population gutgetan hat" und betont zudem, dass sich die Zucht verändert hat. "Pickel war zu seiner Zeit einer der besten für das Exterieur mit durchschnittlichen Leistungsmerkmalen", so Berger weiter.

Pickel, der 83 Prozent Red-Holstein- und 17 Prozent Simmentaler-Blut in seinen Adern hatte, wäre nach heutiger Definition allerdings kein Red-Holstein-Stier mehr. Für die Rassenzugehörigkeit wird ein minimaler Red-Holstein-Blutanteil von 87 Prozent verlangt. Wie Samuel Krähenbühl von Swissgenetics sagt, herrscht Reinrassigkeit aber erst ab 98 Prozent Red-Holstein-Blutanteil. Pickel wäre mit seinen 17 Prozent Simmentaler-Blut demnach ganz klar ein Swiss-Fleckvieh-Stier. Wie Krähenbühl schreibt, wäre die Rasse Swiss Fleckvieh "ohne den Einfluss von Pickel kaum denkbar." Wurde Pickel-Blut in der Red-Holstein-Zucht bald von anderen Stieren verdrängt, ist es bei Swiss Fleckvieh nach wie vor präsent. Wie Krähenbühl sagt, sei es fast einfacher, jene Stiere zu erwähnen, die nicht mit Pickel verwandt sind.

Überraschend ist das nicht; Pickel-Kühe passen besser ins Konzept von Swiss-Fleckvieh. Wer nämlich eine mittelgrosse, mittelscharfe und langlebige Kuh will, der ist mit Pickel nach wie vor bestens bedient. "Die Swiss-Fleckvieh-Zucht wäre ohne Pickel nicht auf dem Niveau von heute", sagt Gerber. Dass Pickel so lange eingesetzt wird, hat aber noch einen anderen Grund: Pickel war ein Kuhmacher. Als Stierenvater indes vererbte er schlecht. Keiner seiner direkten Söhne vermochte dem Vater das Wasser zu reichen. Pickel widerlegte die Regel, dass die Söhne besser seien als ihre Väter. Aus genetischer Sicht ist es das, was die Züchter immer erwarten. Nur bei Pickel war das anders - und das sicherte ihm den dauerhaften Erfolg.