Der Begriff der Qualität ein Schlagwort mit beinahe unbegrenztem Anwendungsgebiet. Setzt man sich damit auseinander, wird jedoch schnell deutlich, dass kaum genau definiert ist, was darunter zu verstehen ist.

Qualität in Form einer Hühnertruppe

Qualität kann den intensiven Geschmack eines Produktes meinen, aber auch andere Kriterien umfassen wie das Aussehen, die Regionalität, Natürlichkeit, Langlebigkeit oder Nützlichkeit einer Ware: Qualität hat viele Gesichter. Auf dem Wendelinhof in Niederwil AG begegnet einem Qualität in Gestalt der Hühnergruppe, die unter freiem Himmel ungestört vor sich hin gackert.

"Qualität ist für mich, wenn ich behaupten kann, dass es den Tieren bis zum Schluss gut ging. Wenn die Tiere lebendig sind und herumspringen. Oder wenn sie auf mich zukommen, wenn ich das Gehege betrete. Vor allem ist Qualität für mich aber, wenn ich sagen kann, dass bei der Aufzucht und der Schlachtung der Respekt gegenüber dem Tier bewahrt wurde”, sagt Esther Baumann, die gemeinsam mit ihrem Partner Lukas Vock den Wendelinhof führt.


Dort werden neben Hühnern auch Truthähne, Gänse und Rinder gehalten sowie Ackerbau betrieben. Der Wendelinhof ist einer der 150 Bauernhöfe in der Schweiz, die unter dem Label "KAG-Freiland" produzieren.

Die Organisation, die 1972 gegründet wurde, zeichnet sich durch ihre Tierhaltungsrichtlinien aus, die schweizweit als die strengsten gelten. So erzielte "KAG-Freiland" 2011 in einer vom WWF, dem Konsumentenschutz und dem Schweizerischen Tierschutz durchgeführten Vergleichsstudie den ersten Platz der tierfreundlichsten Labels.

Bewegung bis zum Schluss

Auf einem Kiesweg geht Esther Baumann zu den Unterkünften ihrer Hühner, die, etwas oberhalb des Bauernhofes, nahe dem Waldrand liegen. Hier sind die zwei Gehege mit den Mustica-Hühnern des Wendelinhofes anzutreffen, die zum Schutz vor Greifvögeln und Füchsen mit einem Netz überspannt wurden.

Eines der Gehege beherbergt fünf, ein anderes acht Wochen alte Tiere. "Bereits am ersten Tag nach dem Schlüpfen kommen die Küken zu uns", erläutert Baumann. "Danach bleiben sie für etwa drei Wochen an der Wärme, wo sie wachsen können. Nach diesen drei Wochen, wenn sie bereits etwas grösser und widerstandsfähiger sind, setzen wir sie an die frische Luft. Hier bleiben sie, bis sie zehn bis zwölf Wochen alt sind. Erst dann folgt die Schlachtung".


Hühner wachsen langsamer

Das Alter der Masthühner auf dem Wendelinhof ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu Hühnern aus konventioneller Haltung, welche meist nur vier bis fünf Wochen alt werden. Erstaunlich dabei ist: Trotz jüngerem Alter sind die Hühner aus herkömmlicher Aufzucht gleich gross oder grösser als die Freiland-Hühner. "Unsere Hühner gehören einer extensiven Art an", erklärt Baumann. Konkret bedeutet das, dass die Freiland-Hühner langsamer wachsen als üblicherweise. Dies ist wichtig, weil den Tieren mit zunehmender Grösse das Laufen schwer fällt. "Ziel ist es, dass die Hühner draussen sein und sich frei bewegen können – bis zum Schluss", so Baumann.

Keine Mast im Winter

Die Regulierung der Aufenthaltsdauer der Tiere im Freien ist eine der zentralsten Vorgaben von KAG-Freiland. So müssen Masthühner und –truten mindestens zwei Drittel ihres Lebens draussen verbracht haben. Diese Forderung birgt jedoch eine Tücke, denn im Winter muss aufgrund der Kälteempfindlichkeit der Hühner auf die Mast verzichtet werden. "Im Winter können wir die Tiere nicht draussen halten, da sie ansonsten frieren würden. Würden wir sie allerdings in den Hühnerställen unterbringen, wären es keine Freiland-Hühner mehr", schildert Baumann die Situation.

"Selbst wenn sich die Tiere von sich aus in den Ställen aufhalten würden, würde das den KAG-Freiland-Richtlinien widersprechen. Um die Integrität des Labels zu wahren, müssen wir den Mast-Betrieb während dieser Zeit daher einstellen".


Weitere Richtlinien von betreffen die Grösse der Mastgruppen, welche maximal 400 Tiere enthalten dürfen, den Umfang der Gehege, wo pro Tier zwei Quadratmeter Auslauffläche vorhanden sein müssen und die Transportdauer bis zum Schlachthof, die entweder 60 Minuten Fahrzeit betragen oder 30 Kilometer Fahrt umfassen darf. Dank der eigenen Hofschlachterei muss praktisch kein Transportweg zurückgelegt werden. "Auch das hat für mich etwas mit Qualität zu tun", sagt Baumann "wenn ich bis zum Schluss selber zu meinen Tieren schauen kann".

Vierteljährlicher Umzug

Die hohen Standars sorgen auch für Mehrarbeit. "Wenn die Hühner draussen sind, tun sie das, was in ihrer Natur liegt: Sie scharren und picken. Das führt dazu, dass der Boden nach einiger Zeit so aussieht". Esther Baumann zeigt auf die Bodenfläche des Geheges, die hier und da etwas kahl wirkt. "Das ist aber normal, denn die Hühner fressen das Gras. Wenn die Tiere geschlachtet werden, wird für die neuen Küken die Weide gewechselt", fährt sie fort.


Der ständige Umzug bringt aber zwei Vorteile mit sich: "Erstens wird so die Übertragung von Krankheiten vermindert, da allfällige Keime und Bakterien am alten Ort bleiben. Zweitens hat der Ortswechsel den Vorteil, dass wir uns den Mist der vorherigen Mastgruppe als Dünger zu Nutze machen können", erläutert Baumann.


Antibiotika wird auf dem Wendelinhof nicht eingesetzt – auch wenn es nach den KAG-Richtlinien erlaubt wäre. Baumann und Vock setzen stattdessen auf Homöopathie.

Kräftiges Fleisch

Bei den Konsumenten kommt das Konzept gut an, und so verkauft der Wendelinhof wöchentlich 500 "Mustica-Poulets"; eine Summe, die nur mithilfe der zwei Partnerbetriebe aufrechterhalten werden kann. Zu den grossen Abnehmern des von Agroscope als "sensorisch ausgezeichnet" bezeichneten Pouletfleisches gehören die drei "Globus Delicatessa"-Geschäfte in Zürich, die Filiale in Basel sowie Manor Deutschschweiz.


Da jeder Schritt im Produktionsverfahren von Baumann und Vock Handarbeit ist – "von der Aufzucht bis zur Verpackung" – ist das Endprodukt teurer als bei Fleisch aus konventioneller Haltung. Wichtiger als die finanzielle Situation der Kunden sei aber die Ideologie der Leute, sagt Baumann. "Das Fleisch stammt zu hundert Prozent aus tiergerechter Haltung. Das ist das Entscheidende". Fest stünde, dass die Freiland-Hühner für sie als Produzenten nicht das grosse Geschäft seien: "Dafür ist der Arbeitsaufwand zu gross".

Einer Kundin schmeckte es zu sehr nach Poulet


Umso mehr freut man sich über die durchgängig positive Resonanz bei den grossen und kleinen Kunden – auch, wenn nicht alle das Fleisch der "Mustica-Hühner" auf Anhieb mögen. "Viele empfinden unser Fleisch zu Beginn als zu zäh. Beim zweiten Mal merken sie aber, dass es nicht zäh, sondern nur kräftiger ist". Dies, erklärt Baumann, sei eine natürliche Konsequenz der Freiland-Haltung: "Man muss sich vor Augen halten, dass es Fleisch ist von Tieren, die bis zum Schluss herumgesprungen sind", sagt sie.

Einmal habe eine Kundin sogar bedenken über ihr Produkt geäussert, weil es ihr zu sehr nach Poulet geschmeckt habe, erinnert sich Baumann. "Als ich ihr entgegnete, dass das für mich das grösste Kompliment sei, kam sie allerdings ins Grübeln", lacht die Landwirtin.


Trotz dem Aufschwung von umwelt- und tierfreundlichen Produkten blickt Esther Baumann der Zukunft des Geflügelsektors nüchtern entgegen. "Ich wünsche mir für die Zukunft, dass die Pouletproduktion so läuft, wie sie laufen sollte. Es widmen sich viele neue Betriebe der Hühnermast, die sich das Ganze zu einfach vorstellen. Ich hoffe, dass das Tierwohl nicht darunter leiden wird", sagt Baumann.

Peywand Kassraian