Helles Licht, eine grosse himmelblaue Schaubühne. An fünf weissen Tischchen, sauber aufgereiht und bereit für die Bewertung, sitzen die fünf internationalen Jury-Mitglieder. Musik erklingt und Yvonne Belin tritt auf – in einem betörenden roten Catsuit, an ihrer Seite wedelt eifrig-freudig Hündin Alice. «Don’t Stop Me Now» dröhnt die Stimme von Freddie Mercury aus den Lautsprechern und bringt damit den nun folgenden Auftritt des Schweizer Teams auf den Punkt: Die Dogdancerin aus Kriens LU und ihr Border Collie sind nicht zu stoppen und holen sich an den Dogdance-Weltmeisterschaften in Moskau Ende Juni 2016 den Weltmeistertitel in der Disziplin Freestyle. Die beiden wirbeln, rennen und hüpfen und bieten den begeistert klatschenden Zuschauern eine beeindruckende Show. Vor allem aber vermitteln sie den Eindruck völliger Harmonie. Der gemeinsame Tanz scheint ohne sichtbare Kommandos und Befehle zu funktionieren.

«Ein unvergessliches Erlebnis», sagt Belin, wieder zurück im Alltag in Lugano, wo sie zusammen mit ihrem Mann Kazuto Kagiyama, der vierbeinigen Weltmeisterin Alice sowie einem weiteren Hund namens Lisa ihr zweites Zuhause hat. «Meine Alice hat in der Hochburg der russischen Dogdance-Ikonen gewonnen. Das ist mehr als man fassen kann!» Etwas Besonderes sei der Erfolg auch, weil ihre Alice ein «ganz normaler» Familienhund sei und sie selber über keine besondere Trainererfahrung verfüge und zuvor auch noch nie einen Hund besessen habe: «Ich hatte null Erfahrung mit Hunden. Das zeigt, dass man auch als gewöhnliche Hundehalterin ohne profunde Vorkenntnisse schöne Erfolge verbuchen kann. Was es braucht, sind Leidenschaft und den Glauben an sich selbst und seinen Hund.» 

Sehen Sie Yvone Belins und Alices Weltmeistertanz im Video:

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Training auf dem Parkplatz
Sie selber habe zwar als Kind und Jugendliche Tanzunterricht genossen, notwendig sei eine solche Ausbildung aber nicht. Man brauche auch keine teure Infrastruktur, um Dog- dance zu trainieren, lediglich Freude an Bewegung und Musik – und natürlich einen Hund: «Ich trainiere meistens auf dem Parkplatz hinter der Dorfkirche, wenn keine Messe ist. Mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Pfarrers.» 

Die Botschaft zu verbreiten, dass jeder, der will, auch kann – unabhängig von Alter, Gebrechen und Geschlecht – ist Belin ein grosses Anliegen: «Dogdance wird dank den vielen Auftritten an TV-Talentshows zwar immer populärer. Er ist aber noch immer eine Randsportart.»

Einen Hund zu haben sei seit jeher ihr innigster Wunsch gewesen, erinnert sich Belin, die in Stockholm geboren und aufgewachsen ist und später mit der Familie in die Schweiz zog: «Wie so viele kleine Mädchen träumte ich von einem Hund und wie so viele Eltern waren auch meine dagegen, weil ein Hund mit viel Arbeit und Verantwortung verbunden ist.» Sie habe rückblickend grosses Verständnis für die Bedenken ihrer Eltern: «Ein Hund ist kein Spielzeug, und einen Hund zu halten und zu erziehen ist kein Spiel.»

Erst in späteren Jahren, nach dem Studium und der beruflichen Karriere als Hochschullehrerin, erfüllte sich Belin den lang ersehnten Traum und kaufte einen Hund. Sie hatte sich in den Sommerferien in den Nachbarshund Alice verliebt – «besonders in ihre treu blickenden Augen und ihr lebhaftes Wesen». Wieder zu Hause, habe sie sich dann im Internet über die Rasse schlau gemacht («Border Collies sind aussergewöhnlich intelligent, lernfähig, flexibel, körperlich sehr gewandt und anhänglich – aber auch anspruchsvoll») und in einer Zucht in Lugano ihre eigene Alice, eine geborene Jewel del Mulino Prudenza, gefunden.

Verhaltensauffälliges Pokémon
Was man sich beim Anblick des eingespielten Teams kaum mehr vorstellen kann: Laut Belin waren die ersten Jahre mit Alice äusserst harzig und anspruchsvoll: «Wir hatten ein Riesenproblem. Ich hatte keine Erfahrung und Alice war ein ausgewachsenes Pokémon mit Verhaltensauffälligkeiten – eine denkbar schlechte Kombination. Wir besuchten einen Hundekurs nach dem anderen, ohne Erfolg und Spass.» Erst als sie auf Youtube ein Dogdance-Video gesehen habe, habe es bei ihr Klick gemacht: «Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Ich war begeistert und wusste sofort, dass das unsere Zukunft wird.» Sie habe sich dann entschieden, Dogdance-Kurse zu nehmen und bereits nach kurzer Zeit sei sie mit Alice besser klargekommen. «Wir wurden ein Team und Alice stellte sich als aussergewöhnliches Talent heraus.»

Inspiriert von Dogdance-Grössen wie Mary Ray, Caroline Scott und Galina Chogovadze habe sie damit begonnen, selber Bewegungsabläufe zu entwickeln und mit Alice einzuüben. «Endlich hatte ich etwas gefunden, was uns beiden Spass macht und uns herausfordert. Es ist wie Poesie, wenn man nach langem Training merkt, dass der Hund versteht, was man von ihm will und sich die Bewegungen harmonisch ergänzen.»

Dass es den beiden Spass macht, ist augenfällig. Sie sei nicht nervös gewesen, sagt Belin über den ausgezeichneten Auftritt im fernen Moskau: «Ich weiss, dass ich mich auf Alice verlassen kann und war freudig gespannt und konzentriert. Ich hatte schliesslich nichts zu verlieren.» Dass sie es als Lehrerin gewohnt sei, vor Leuten zu stehen, komme ihr bei den Auftritten vor grossem Publikum sehr entgegen: «Vielleicht habe ich auch eine kleine narzisstische Seite in mir», sagt Belin und lacht dabei. 

Nach dem Auftritt seien sie und Alice sehr erschöpft gewesen. So ein mehrtägiges Turnier nach der langen Reise, mit vielen Menschen, Tausenden von Hunden, Journalisten und viel Lärm sei eine grosse Anstrengung gewesen für Hundeführerin und Hund, sagt Belin: «Nach einem wohlverdienten Schönheitsschlaf erhielt Alice zur Belohnung eine Handvoll ihrer Leibspeise: Mozzarella, und ich ein Glas Champagner!»

Die Interpretation der Musik sowie die technisch anspruchsvolle Choreografie seien von der Jury besonders gelobt worden, erzählt Belin, die ihr Programm jeweils alleine auf die Beine stellt und trainiert. Nicht zuletzt ihr Kostüm sei sehr gut angekommen. Statt wie üblich schwarz («mein Markenzeichen»), trug sie zum ersten – und einzigen –  Mal rot: «Ich wollte für einen knalligen Abschluss mit Alice sorgen.»

Als Weltmeisterin von der Bühne
Nachdem Alice, nebst zahlreichen anderen Erfolgen, mehrfache Schweizer Meisterin, Europameisterin, Vize-Weltmeisterin und nun auch noch Weltmeisterin geworden ist, tritt die inzwischen achtjährige Hündin nämlich aus dem Rampenlicht zurück. «Sie ist auf dem Höhepunkt ihres Könnens» sagt Belin: «Aber ich will nicht den letzten Tropfen ihrer Fähigkeit und ihres Potenzials aus ihr herauspressen. Ausserdem sagte meine Mutter immer, dass man ein Fest verlassen sollte, wenn es am schönsten ist.» 

Ob auch Belin «das Fest verlässt», ist noch unklar. Zweithund Lisa, ebenfalls ein Border Collie und aus der gleichen Zuchtlinie wie Alice, steht nämlich bereits in den Startlöchern. «Sie ist unglaublich begabt und ich würde den Leuten gerne zeigen, was in ihr steckt», sagt Belin über die vierjährige Hündin. Es müsse aber nicht mehr zwingend an Turnieren, sondern könne auch bei Vorführungen und im Rahmen von Benefiz-Veranstaltungen sein. «Ich arbeite bereits an einer neuen Choreografie für Lisa.» Auch mit Alice trainiere sie weiter: «Weil es sie körperlich und mental gesund hält – und mich auch.»