Das Foto der Krippe aus Ton, kreiert auf Wunsch meines Mannes Roland, zeigt verschiedene Figuren: Maria, Josef, Jesuskind, ein Hirte mit einem Schaf, die drei Könige mit einem Kamel und der Ochse. Doch halt – hier fehlt eine Figur: Zu einer richtigen Krippe gehört doch auch ein Esel! Ich fragte nach bei der Töpferin, welche die Krippe erschaffen hat: «Es gibt keinen Esel», beschied sie mir. «Es darf auch einmal eine Figur fehlen?» Es könne ja sein, dass mal ein Tier oder ein Hirte abwesend ist. Die Künstlerin empfahl mir, den fehlenden Esel in einer Geschichte aufleben zu lassen. Was ich tat.

Suche nach dem Lamm

Der Hirte Fridolin – was der Beschützende bedeutet – war nicht richtig bei der Sache, als er dem Christkind in der Krippe die Ehre erwies. Er sorgte sich um das Lamm Florentino, welches er verloren hatte. Eigentlich hatte er mit den anderen Hirten den Engeln folgen wollen. Aber er musste zuerst das Tier finden. Nachdem er es in einem Gestrüpp entdeckt hatte, klemmte er es unter den Arm und lief über die Felder, dem Engelgesang entgegen.

Verklärter Ochse

Etwas anderes beschäftigte jedoch den Hirten zusätzlich. Wo war der Esel? Fridolin wusste, dass zu einer Krippe ein Esel gehörte. Darum wandte er seinen Blick immer wieder ab vom Jesuskind, das ihn liebevoll anlächelte. Auch die schöne Mutter Maria konnte er nicht lange betrachten. Er drehte den Kopf nach links und nach rechts – kein Esel; das verwirrte den Hirten. Er ging zum Ochsen Natal und flüsterte ihm ins Ohr: «Wo ist der Esel?» Dieser flüsterte dem Hirten ins Ohr, sie sei hinausgegangen. «Sie?», fragte der Hirte. «Ja, es ist eine Eselin, eine schöne junge Dame aus Ägypten», sagte er und verdrehte verklärt die Augen. Fridolin war neugierig. Deshalb huschte er an der Krippe vorbei hinaus ins Freie, nicht ohne sich vor dem Gotteskind hastig verbeugt zu haben. Dann sah er sie, Honorata, die Geehrte, eine weisse ägyptische Eselstute. Er verstand, weshalb der Ochse die Augen verdreht hatte. Honorata war wirklich wunderschön und ihr Fell leuchtete ebenso wie der Stern über dem Stall.

Der siebte Sinn

Fridolin näherte sich dem Tier, das tief in Gedanken versunken schien. «Hmchch», räusperte er sich. Die Eselin drehte den Kopf und schaute ihn mit traurigen Augen an. «Weshalb bist du traurig?», fragte er. «Heute ist uns der Erlöser geboren, da wollen wir alle fröhlich sein.»– «Ja», lächelte Honorata, «seien wir frohgemut, solange wir können.» Die Zeit werde kommen, orakelte das Tier, wo Gottes Sohn schrecklich leiden müsse. «Setz dich zu mir, Fridolin», lud Honorata den Hirten ein. «Ich erzähle dir meine Geschichte.» Die Menschen würden denken, Esel würden nur schreien und hätten lange Ohren; zudem seien sie stur und dumm. Dabei seien Esel feinfühlig, fleissig, zuverlässig, genügsam, stark und intelligent. Sie hätten einen siebten Sinn. Dank diesem sehe sie das Leben des Herrn und das ihre voraus. Sie habe Joseph mit der hochschwangeren Maria nach Bethlehem gebracht. Schon bald müssten sie fliehen, zurück nach Nazareth, wo sie ein paar ruhige Jahre verbringen könnten. «Und dann, wenn ich bereits eine alte Eselsdame bin, werde ich den Herrn nach Jerusalem tragen, wo er triumphal empfangen wird», sagte Honorata mit leuchtenden Augen. «Mein Ende fällt mit dem des Herrn zusammen.» Auf einmal bewegte sie sich leichtfüssig zum Stall: «Komm, Fridolin», rief sie glücklich. «Lass uns zurückgehen zum Kind. Wir wollen alle fröhlich sein und uns über die Geburt des Herrn freuen.»