Wer mit Hans Jörg Rüegsegger Schritt halten will, braucht lange und schnelle Beine. Sei es, wenn er durch die Gassen Berns marschiert oder wenn er die Agrarpolitik erklärt. Und auch seine Antwort auf die Frage, was ihn ausbremsen könnte, kommt ohne zögern: «Die Gesundheit.» Alles andere sieht er als Herausforderung und nicht als Hindernis. So macht er sein Vorwärtskommen auch nicht unbedingt vom Umfeld abhängig: «Man kann es nie allen recht machen», betont er.

Und doch ist er der ­Erste, der potenziellen Abtrünnigen erklärt, warum der Berner Bauernverband gut für seinen Betrieb ist und warum er den Beitrag bezahlen sollte. Grundsätzlich findet er es richtig, wenn die Mitglieder entscheiden können, ob sie mit der Arbeit eines Verbandes zufrieden sind oder nicht und ob sie den Beitrag bezahlen wollen oder nicht. Die Frage, ob es vor den an­stehenden Herausforderungen auch eine Anpassung in der Verbandslandschaft brauche, quittiert er mit einem entwaffnenden Lachen: «Kannst du dir diese Frage bitte selber beantworten?» Und dann kommt die Antwort doch noch. Neue Köpfe brauche es, solche, die an die Zukunft glauben, diese mitgestalten wollen und nicht an der Vergangenheit hängen.

Keine Zeit verlieren

Es ist kühl an diesem Morgen, zackig marschiert Hans Jörg Rüegsegger zum Fototermin auf dem Weihnachtsmarkt in der Berner Innenstadt. Im Rathaus wartet die nächste Abstimmung auf ihn. Und er weiss, eigentlich hätte auch die Landwirtschaft keine Zeit zu verlieren vor den anstehenden Abstimmungen. Ausgerechnet jetzt sind das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) und das Amt für Landwirtschaft und Natur des Kantons Bern (Lanat) wegen Wechseln in der Leitung nicht voll einsatzfähig.

Rüegsegger ist beunruhigt, das mache die Situation schwer einschätzbar. Auch darum hofft er, dass die anstehende Übergabe der Geschäftsführung beim Berner Bauernverband, verursacht durch die Kündigung des aktuellen Geschäftsführers Andreas Wyss, möglichst nahtlos gemacht werden und die Lücke schnell geschlossen werden kann.

Hofers Kurs beibehalten

Den Abgang von Lanat-Chef Christian Hofer mag er nicht nur bedauern. Dass dieser nun wieder ans BLW wechsle sei sicher ein Zeichen, dass bei ihm viel Potenzial vorhanden sei: «Wir dürfen es nicht bedauern, er kann uns ja jetzt national helfen». Und Regierungsrat Christoph Ammann habe die Absicht bekräftigt, er wolle Hofers Kurs beibehalten.

Hofer sei einer, der geschätzt worden sei, sich auf Gespräche eingelassen habe und sich gezeigt habe. Das erwartet Rüegsegger auch vom künftigen Lanat-Chef Michael Gysi: «Es nützt nichts, wenn der Lanat-Chef nur an der Herrengasse sitzt und die Verwaltung betreut und beschäftigt.» Wichtig sei auch, dass der Bauernverband und das Lanat gemeinsame Ziele hätten und diese zusammen anvisieren.

Der Landwirt als Botschafter

Wenn Hans Jörg Rüegsegger spricht, ist seine Stimme fest, sein Blick prüft den Gespächspartner, ob er seinem Tempo folgen kann. Fragt man ihn jedoch, wie es «seinen» Landwirten gehe, dann schweift sein Blick ab und er räuspert sich, ringt nach Worten. Das sei ein schwieriges Thema. «Ich musste auch hier im Parlament den Mitgliedern erklären, dass sie dreimal täglich von Landwirten ernährt werden, ihre Lebensmittel irgendwo angebaut werden und am jeweiligen Ort einen CO2-Abdruck hinterlassen».

Dabei ist er überzeugt, mit der wachsenden Weltbevölkerung braucht es die Landwirtschaft immer mehr. Es gebe immer mehr Konsumenten, welche bewusst auf inländische Lebensmittel setzen. «Was mir aber zu denken gibt, dass der Stimmbürger vom Sonntag nicht der Konsument vom Montag ist», fügt er hinzu. Der Konsument wisse zuwenig, was er mit seinem Einkaufsverhalten auslöse. Hier seien die Landwirte die besten Botschafter, wenn es darum gehe, sich gesund und umweltbewusst zu ernähren. 

Dann erzählt er von der Skisaison, die jetzt beginne, wie beispielsweise mancher Bergbauer nun wieder in aller Frühe aufstehe, den Stall mache und sich dann den ganzen Tag auf die Skipiste stelle, um abends wieder die Tiere zu versorgen: «Diese Belastung ist enorm gross», betont er. Dem Konsumenten könne man nicht erklären, warum man etwas mache, das nicht rentiere. Trotzdem sei es wichtig, wirtschaftlich und sozial nachhaltig zu leben und den Betrieb auch einmal aus etwas Distanz zu betrachten. Manchmal sei weniger mehr. Es sei wichtig, sich nicht nur an Weihnachten Zeit zu nehmen, sondern auch unter dem Jahr Auszeiten zu planen und Kontakte zu pflegen.

Nicht einfach nur krampfen

Wann und wo schaut eigentlich ein Berner Bauernverbandspräsident von aussen auf seinen Job? «Am besten morgens um fünf Uhr, wenn ich am Misten bin und merke, dass mich etwas beschäftigt», antwortet er auf diese Frage. Aber auch einmal an einem Hockeymatch oder einem Schwingfest: «Ich schöpfe Kraft aus guten Gesprächen, wir haben viele sehr gute Leute im Kanton Bern», hält er fest. Trotzdem ist es ein relativ konservatives Umfeld, in dem sich die Landwirtschaft bewegt.

«Früher war es nicht einfach besser oder schlechter, sondern anders», betont er. Ganz klar habe das Unternehmertum auf den Betrieben Einzug gehalten. Man könne nicht einfach vor sich hin krampfen, sondern müsse schauen, wie man Ende Monat seine Rechnungen bezahle. Es sei noch nicht lange her, da habe ein Betrieb neben der Familie und allen Angestellten rund fünf Personen ernährt, heute ernähre ein einziger Landwirtschaftsbetrieb im Schnitt 120 bis 130 Personen.

Die natürlichen Ressourcen seien hingegen die gleichen geblieben und dazu trage der Landwirt Sorge, gehe damit nachhaltig um, wolle den Betrieb in möglichst gutem Zustand an die nächste Generation weitergeben. Darüber müsse man sprechen. Auch über Direktzahlungen, welche der Landwirt für bestellte Leistungen bekomme.

Die Bildung anpassen

Und dann vergleicht er die Landwirtschaft mit der übrigen Wirtschaft: «Wenn ein Schreiner einen Auftrag hat für hundert Tische, dann stellt er eine Rechnung: «Dem sagt keiner, dass er 70 Tische zu 1000 Franken liefern kann, 20 zu 750 Franken und den Rest noch zum C-Milchpreis. Der Schreiner würde sagen, ‹vergiss es›.» Aber was braucht es denn, damit auch die Landwirte hinstehen und sagen: «Meine Milch ist vom ersten bis zum letzten Liter gleichviel wert und meine Arbeit kostet von der ersten bis zur letzten Stunde gleichviel?»

Hier setzt Hans Jörg Rüegsegger auf die Jugend und deren Ausbildung. Er habe den Schulrat aufgefordert bereit zu sein für die anstehende Revision, um die Landwirte besser auf diese Herausforderung vorzubereiten. Er sehe heute einen Bildungsplan, der so gross sei, dass man ihn kaum in der verfügbaren Zeit unterbringen könne.

Die vierjährige Lehre ist kein Thema

Andererseits seien die Auszubildenden immer jünger und es fehle ihnen die Erfahrung, um den Stoff zu verstehen und nicht nur auswendig zu lernen. Grundsätzlich auf eine vierjährige Lehre setzen, möchte er nicht. Vielmehr brauche es Weiterbildung um das Manko zwischen 20 und 50 Jahren zu füllen. Dabei müsse mehr der Betrieb im Zentrum stehen, und wie dieser in allen Bereichen nachhaltig bewirtschaftet werden könne. Heute sei es die Erfahrung von zuhause aber auch die Art und Weise, wie der Lehrbetrieb arbeite, was die Zukunft der Junglandwirte präge. Dabei sei die Spannweite unter den 600 Lehrbetrieben extrem gross.

Aber auch bei den Bauernfamilien sei ein Wandel im Gang. Viele Bauersfrauen seien berufstätig, die Betreuung der Lehrlinge verändere sich damit. Ob er das gut oder schlecht findet? «Es ist wie es ist, man kann Landwirte nicht in ein Viereck stecken und sagen, du bis Landwirt, also hast du so und so zu sein», stellt er dezidiert fest.

Der Landwirt braucht Alternativen und das nötige Wissen

«Der Bauer lebt von den Preisen, viele trauen sich jedoch nicht einen fairen Preis für die Produkte zu fordern», das komme beispielsweise in der Grundausbildung nicht vor. Als Beispiel führt er die Kälberpreise an, die eigentlich höher wären, als die in der Zeitung publizierten, jedoch fehle wie vielerorts die Transparenz. Hier brauche der Landwirt einerseits Alternativen aber auch das nötige Wissen und Selbstvertrauen. Er ist auch sicher, dass sich die Berner Landwirte nicht verstecken müssen.

Gerade die Massentierhaltungsinititative biete grosse Chancen zu kommunizieren, was die Schweizer Landwirtschaft mache, welche Vorteile sie biete. «Massentierhaltung haben wir in der Schweiz nur bei den Bienen», erklärt er und fügt an, wer, die Schweizer Tierproduktion nicht gut finde, müsse auch bereit sein, die entsprechende Nahrung nicht mehr aus dem Ausland zu importieren. «Wenn ich jemanden frage, ob er lieber Futter oder Pouletfleisch importieren wolle, dann sind die Meisten dafür, das Poulet hier zu produzieren.»