Vier Jahre war Tesfu Adhanom auf der Flucht: 2008 verliess der Eritreer seine Heimat und flüchtete in den benachbarten Sudan. Zu Fuss und in einer fünf Mann grossen Gruppe bewegte sich der junge Tesfu Adhanom nur nachts – Orientierung boten die Sterne. Blätter, Gras und Insekten mussten über vier Monate als Verpflegung herhalten.

In Libyen – die nächste Station – verbrachte er zwei Jahre und fand temporär Arbeit, ehe er eine Mittelmeer-Überfahrt in Angriff nahm. Vergebens, denn eine Seepatrouille brachte ihn zurück nach Libyen. Zwei Monate musste er dort in einem Gefängnis ausharren. Mittels Prügel und Folter versuchten seine Peiniger, vom jungen Mann Geld zu erpressen – im Gegenzug für dessen Freiheit.

Schliesslich gelang Tesfu Adhanom die Flucht nach Tunesien, wo ein weiteres Jahr verstrich. «2012 kam ich endlich per Flugzeug in die Schweiz», erzählt der heute 30-Jährige. Seine in St.Gallen wohnhafte Schwester Okba Adhanom konnte ihn dank Familienanzug nach Helvetien bringen. «Das von einem Freund geliehene Geld für das Flugticket habe ich zurückbezahlt.»


Warten auf Entscheid


Doch auch in der Schweiz hiess es anfänglich, sich in Geduld zu üben. Überglücklich über seine Ankunft hatte der junge Eritreer keine andere Wahl, als zwei Jahre auf einen positiven Entscheid seitens der Behörden zu warten. «Ich hätte gerne schon früher einen Sprachkurs besucht und gearbeitet, dann wäre mein Deutsch heute besser», schildert Tesfu Adhanom. Denn während seiner Wartezeit im thurgauischen Müllheim sei es ihm nicht von Beginn an gestattet gewesen, in St. Gallen einen kostenlosen Deutschkurs zu absolvieren.

«Alles geht hier irgendwie zu lange», wirft Markus Ramser ein. Auf dessen Betrieb in Illhart TG fand Tesfu Adhanom nicht nur einen spannenden Arbeitsplatz, sondern auch ein neues Zuhause.


Teilnahme an Pilotprojekt


Seit Mai 2015 ist der junge Mann bereits auf dem Biohof von Emma und Markus Ramser angestellt: zwölf Monate – bis im Mai dieses Jahres – im Rahmen eines Pilotprojekts des Schweizer Bauernverbands (SBV) und des Staatssekretariats für Migration (SEM), welches das Potenzial von Flüchtlingen als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ermitteln soll. «Mir war von Anfang an klar, dass ich das miterleben möchte», sagt Markus Ramser. Und der Arbeitsbeginn im Frühjahr bedeutete für Tesfu Adhanom, dass er von Beginn an eifrig mitanpacken durfte. «Tesfu wurde direkt ins kalte Wasser geworfen, weil wir im Mai natürlich schon sehr viel Arbeit verrichten müssen», erinnert sich der Meisterlandwirt schmunzelnd zurück.


An Handarbeit gewöhnt


Besonders zu Beginn sei es nicht einfach gewesen, bestätigt auch der junge Eritreer. So habe er bekannte Sphären verlassen und sich arbeitstechnisch schnell umgewöhnen müssen. Denn Bauer sein in Eritrea bedeutet nicht das Gleiche wie hierzulande. «In Eritrea arbeiten wir noch mehr mit den Händen», berichtet Tesfu Adhanom aus eigener Erfahrung.

Sein Vater ist nämlich selbst Bauer, kultiviert etwas Mais und Getreide und besitzt noch ein oder zwei Ziegen und Kühe – hauptsächlich zur Selbstversorgung. Grössere Maschinen wie etwa Traktoren fehlen meist oder können notfalls gemietet werden. «Der Umgang mit der Maschinerie und den Fahrzeugen war zu Beginn heikel», sagt Markus Ramser. Letztlich sei er als Betriebsleiter verantwortlich, dass sich keine Unfälle ereignen und die teuren Maschinen heil bleiben. «Aber Tesfu arbeitet immer äusserst sorgfältig», sagt Markus Ramser zufrieden.


Mangelnde Begleitung


Zufriedenheit zeigte sich aber nicht überall: Denn die Projektbegleitung durch den SBV und das SEM erhält vonseiten der Familie Ramser das Prädikat «ungenügend». Da eigentlich dem Kanton die Projektbegleitung übertragen worden sei, sei es falsch, diesbezüglich die ganze Schuld beim SBV zu suchen: «Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass jemand vom Bauernverband einmal auf Besuch kommt – nicht wegen mir, sondern wegen Tesfu», sagt Markus Ramser.

Doch weder der SBV noch das SEM fanden innert zwölf Monaten den Weg nach Illhart. Ein monatlich einzureichender Fragebogen zum Stand der Dinge und der übliche Schriftverkehr waren alles. Und dieses Verhalten habe Markus Ramser im Februar an einem Treffen mit den Verantwortlichen auch gerügt.


Ausbildung gestartet


Nach einem Jahr beendete Tesfu Adhanom das Projekt erfolgreich und erhielt anschliessend eine Festanstellung. Seit August absolviert er sogar den Lehrgang zum Agrarpraktiker mit Eidgenössischem Berufsattest: eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten. Insbesondere weil der 30-Jährige noch Mühe mit der deutschen Sprache bekundet, gestalte sich das Ganze etwas schwierig. Er verstehe im Unterricht sehr viel, könne es im Nachhinein aber nicht so einfach wiedergeben, sagt Tesfu Adhanom.

So liegt es vor allem auch an Markus Ramser, seinem Lernenden aktiv zur Seite zu stehen: zum Beispiel beim Lernen oder beim einfachen Schreiben. Die wenigen Monate, welche Tesfu Adhanom nun die Schulbank drückt, hätten sich bereits stark auf die Hofarbeit ausgewirkt. Er setze das, was die Lehrer sagen, eins zu eins in der Praxis um. Zwar erledige er die gleiche Arbeit wie vorher, handle dabei aber bewusster. «Und er arbeitet immer exakt», lobt der Meisterlandwirt seinen Lehrling.

«Ich versuche, alles genauso zu machen wie Papa», wirft Tesfu Adhanom ein und meint mit «Papa» seinen Lehrmeister. Dessen Frau Emma Ramser fügt schmunzelnd an: «Sie bilden ein tolles Team.»


Am Schluss wird abgerechnet


In der etwas ruhigeren Winterzeit gelte es augenblicklich, die schulischen Defizite zusammen aufzuholen. «Abgerechnet wird in zwei Jahren. Und dann ist Tesfu ganz oben», ist Markus Ramser überzeugt. Trotz Ausbildung erhält der begeisterte Kirchgänger Tesfu Adhanom – dessen römisch-katholischer Glaube führt ihn jedes Wochenende zum Gottesdienst nach St. Gallen; Ende September war der 30-Jährige mit einer Gruppe Gläubiger sogar im Vatikan –

keinen Lehrlingslohn.

Er ist zu gleichen Bedingungen angestellt wie während des Projekts: Rund Fr. 3500.- Brutto erhält der junge Eritreer. Damit klappt es nun auch mit dem Nachzug von Tesfu Adhanoms Frau Merhawit Zemichael, die gegenwärtig in Äthiopien ist. «Das bedrückt Tesfu sehr. Und wir leiden stark mit», betont Emma Ramser.


Nach all den Erlebnissen: Würde die Familie Ramser anderen Betrieben eine ähnliche Erfahrung empfehlen? «Ganz bestimmt, denn es kommt sehr viel zurück», lautet die Antwort von Markus Ramser. Und Erinnerungen an die eigene Jugendzeit seien dadurch geweckt worden. So würden verschiedene Hof-Erlebnisse gedanklich aufgefrischt, als Landstreicher in Illhart zu Besuch kamen und für kurze Zeit Arbeit und einen «warmen Kuhstall zum Übernachten» suchten.


Vertrauen schenken


Eine besonders wichtige Voraussetzung müsse aber gegeben sein, wolle ein Bauernbetrieb einen Flüchtling bei sich beschäftigen: «Der Betriebsleiter darf nicht gestresst sein», betont der leidenschaftliche Landwirt, der sich in seiner Freizeit mit Hingabe um seine Bienenvölker kümmert. Auch wenn es zwischenzeitlich stressig zu und her gehe, zum Beispiel während der Erntezeit, müssten sich die Hofbetreiber stets Zeit nehmen. Es sei wesentlich, die Flüchtlinge zu begleiten und ihnen viel Vertrauen zu schenken. Aber: «Wir dürfen sie nicht bemitleiden.»


Markus und Emma Ramsers Fazit fällt dermassen positiv aus, dass sich die Familie überlegt, im Frühjahr jemand Weiteres aufzunehmen – vielleicht wieder im Rahmen des Pilotprojektes.


Curdin à Porta