An einem Probeabend im Männerchor stand ein neuer Sänger neben mir und stellte sich mir als Josip vor. Sein etwas fremdländischer Dialekt verrieten mir, dass er wohl aus einem Oststaat stammte.

Von Anfang an verstanden Josip und ich uns gut. In der Pause sassen wir immer zusammen und erzählten uns gegenseitig unsere Lebens- und Familiengeschichten. So wussten wir beide fast alles vom andern.

Wunsch aus dem Katalog

Einmal muss ich ihm erzählt haben, dass ich mir als Bub zu Weihnachten eine Dampfmaschine gewünscht hatte. So eine, wie sie alljährlich im Jelmoli-Katalog abgebildet war und die eine kleine Holzfräse antrieb.

In unserer kinderreichen Familie konnte mir dieser Wunsch auch von einem grosszügigen Christkind nicht erfüllt werden. Ein Lastwagen zum Aufziehen, eine Laubsägegarnitur und eine Schachtel voller Bauteile von Meccano waren jedoch ebenfalls geschätzte Geschenke. Ich hätte mich nie getraut, meinen Dampfmaschinentraum auf einen Wunsch-zettel zu schreiben. In einer Grossfamilie war Bescheidenheit nicht eine Tugend, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Nun zurück zu meinem Sängerkollegen Josip. Plötzlich fehlte er häufig an den Proben. Er sei krank, hiess es, und als ich einmal nachfragte, wie es Josip ginge, weinte seine Frau am Telefon: «Er ist an Krebs erkrankt.» Die Krankheit war schon so weit fortgeschritten, dass ein Besuch nicht mehr möglich war. Kurze Zeit später starb er, und ich räumte ihm einen Platz in meinem Herzen ein. Monate später rief mich die trauernde Witwe an und bat mich, gelegentlich einmal vorbeizukommen, Josip habe mir etwas in seinem Testament vermacht. Ich war erstaunt und natürlich auch gwundrig.

Überraschung von Josip

Josips Frau überreichte mir bei meinem Besuch eine Schachtel, die ich gleich an Ort und Stelle öffnete. Ich schäme mich nicht zu erzählen, dass meine Augen feucht wurden, als eine Dampfmaschine zum Vorschein kam. Sie war matt glänzend, genau wie die vom Jelmoli-Katalog. Beim Buben Josip muss sie tatsächlich einmal unter dem Weihnachtsbaum gelegen haben. Er hatte sie ja auch verdient, ist er doch später Maschineningenieur geworden.

Diese kleine Dampfmaschine steht noch immer in meiner Werkstatt, und ans Christkind glaube ich heute noch! 

 

Die Katze in der Krippe

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