Am Tag als sein Vater verstarb, beschloss Hans Schnyder zu schreiben. So viel Wissen wie möglich und seine Erinnerungen schriftlich festzuhalten. Wissen, das er von seinem Vater gesammelt hatte.


Innert kürzester Zeit hatte er um die 50 Stichworte in einem Dokument notiert. Anschliessend begann er, zu jedem Stichwort aufzuschreiben, was er noch wusste. Aus diesen gesammelten Erzählhappen wurde über die Jahre ein 200-seitiges Dokument und schliesslich ein Buch mit dem Titel «Abendweide».


Das stichwortartige Vorgehen ist dem Buch noch anzumerken. Besteht es doch vorwiegend aus kurzen Kapiteln, die da heissen «Melken», «Die Alpfahrt», «Alp
schweine», «Zäunen» usw. Aber gerade diese Schreibart erfrischt das Buch. Es ist geschrieben, als würde Hans Schnyder vor dem Leser sitzen, und frei Geschichten von früher erzählen.


Ausgebildet, aber nicht dazu berufen


Hans Schnyder hat selbst die landwirtschaftliche Ausbildung bis zum Meisterlandwirt absolviert und für eine Weile den elterlichen Hof in Netstal GL geführt. Schon in jungen Jahren begann er sich aber auch für Politik zu interessieren und wurde Gemeinderat in Netstal.

Immer öfter ausser Haus, brauchte er auf dem Betrieb die tatkräftige Unterstützung von seinem kleinen Bruder Walter. Dieser lehrte den Zimmermannsberuf, half aber leidenschaftlich gerne auf dem Hof 
mit.


Und je engagierter Hans Schnyder ausserhalb der Landwirtschaft wurde und gleichzeitig sah, wie Walter engagiert waltete auf dem Hof, desto klarer sah er das Offensichtliche: Walter war der berufene Hofnachfolger, nicht er. Also zog sich Hans aus dem Landwirtschaftsbetrieb zurück, um in der Politik und mittlerweile als landwirtschaftlicher Versicherungsberater sein Glück zu suchen und zu finden.

Die Kunst der Älpler detailliert dokumentiert


Das Buch «Abendweide» ist nach einer Nachtweide auf der Auernalp benannt, auf der die Familie Schnyder stets sömmerte, und auf der übrigens ein Bruder des Autors immer noch Sommer für Sommer mit seinem Vieh verbringt. Die Schrift war vorerst als Familiendokument angedacht. Sie erzählt vorwiegend von zwei Alpsommern in den 60er-Jahren, die Hans Schnyder als Junge erlebte.


Zusammen mit seinem Vater und einem Vetter sorgte er für das Vieh, half mit beim Zäunen, beim Melken und Kochen, beim Richten der Arbeitsgeräte – kurzum bei allem, was so anfällt im Leben als Älpler. Dabei sind die Ereignisse sehr lebhaft geschildert mit spannenden fachlichen Ausführungen. Tierzüchterisches Wissen, technische Beschreibungen von einfachen Geräten und Schilderungen von Arbeitsvorgängen bringen dem Leser den Alltag der damaligen Älpler ganz nah.

Schockmomente, Legenden und Gruselgeschichten

Auch persönliche Erlebnisse, Schockmomente wie der eine Morgen, an dem der kleine Hans ganz alleine im Heimatli auf der Alp erwachte und Vater, Vetter sowie alle Kühe spurlos verschwunden waren, sind reich im Buch vertreten. Hans wurde Stunden später ­weinend von den zwei Älplern aufgefunden, als diese vom ­Einholen der Kühe wiederkehrten, die in der Früh abgehauen ­waren.


Was auch nicht fehlt, sind zahlreiche lokale Legenden, Gruselgeschichten und Schilderungen von Glarner Eigenheiten. Und berührend ist die Geschichte vom Tod des geliebten Vetters Hans. Einem Original und Fa­milienmitglied, dessen letzten Gang von der Alp der Autor mit wunderschöner Wehmut beschreibt: «Mir schien, als schliefe er nur. So ruht er immer noch in meinem tiefsten Innern.»


Den Wandel der Zeit vor Augen geführt


«Am meisten Reaktionen habe ich auf die Schilderung der hygienischen Zustände auf der Alp erhalten», stellt Hans Schnyder fest.  


Tatsächlich ist es für den Leser befremdlich zu lesen, wie sie sich nie die Zähne geputzt und stets in den Kleidern geschlafen hatten. Des Vaters Ansichten zu diesem Thema, so schreibt Hans Schnyder, sei stets gewesen: «Die Haut hat einen Selbstreinigungsmechanismus, Seife schadet ihr.»

Das Buch legt den unheimlich schnellen Wandel offen, der sich in der Landwirtschaft vollzogen hat in nur einer Generation. «Als ich klein war, haben die Leute für spärliches Essen regelrecht gekrüppelt», gibt Hans Schnyder zu bedenken.


Heute sind die Lebensverhältnisse ganz anders. Umso spannender und wohltuender ist es, sich beim Lesen der «Abendweide» zurückzubesinnen und sich bewusst zu machen, wie es einmal war.


Nadine Baumgartner