Tee, Kaffee und Guetzli stehen auf dem Tisch in der gemütlichen Wohnküche. Eine Kerze brennt. Auf der Eckbank sitzt ein Ehepaar, das sich beim Sprechen immer wieder in die Augen schaut. Zwei, die einander ausreden lassen und auch bei schwierigen Themen die richtigen Worte finden. Das war nicht immer so.

«Früher war meine Einstellung, dass ich fürs Bauern zuständig war und Irma für alles andere», erzählt Hansueli Stricker. «So manövrierte ich mich selbst ins Abseits.» Er wurde alkoholabhängig und die Ehe wäre beinahe zerbrochen.

Vom Appenzell ins Zürcher Oberland

AboEinen alkoholkranken Partner oder eine alkoholkranke Partnerin zu haben, ist nicht nur eine Belastungsprobe für die Beziehung, sondern kann das Gegenüber auch regelrecht kaputt machen, wenn man sich nicht selbst stärkt. Medikamente können helfen, genügen aber nicht allein«Alkoholismus ist eine chronische Krankheit – Andere Menschen haben Bluthochdruck»Montag, 8. Januar 2024 Das Paar bewirtschaftet gemeinsam einen Milchwirtschaftsbetrieb in Dürnten ZH, den es im Jahr 2015 aus einer Pacht kaufen konnte. Zum Hof gehören 27 ha landwirtschaftliche Nutzfläche, 30 Kühe und etwa gleich viel Jungvieh. Ursprünglich kommen beide aus dem Appenzell. Hansueli Stricker (53) wuchs als jüngstes von acht Kindern und als Bauernsohn in Hundwil AR auf, «in einem christlichen Haushalt», wie er sagt. «Doch es war auch wichtig, dass die Fassade gegen aussen stimmte.» Sein nächstälterer Bruder war sehr angepasst. «Ich konnte nicht so brav sein wie er, das war mir zu eng.»

Irma Stricker (49) wurde in Herisau AR ebenfalls auf einem Hof gross, zusammen mit fünf Schwestern. «Wir lebten gottlos, eher ärmlich, wurden ausgebeutet und hatten einen gewalttätigen Vater, der schnell zuschlug», sagt sie über ihre Kindheit. Als die Töchter grösser wurden, kam sexueller Missbrauch dazu. Als dies die Mutter merkte, flüchtete sie mit den Mädchen und reichte die Scheidung ein.

Die Hoffnung, dass alles gut würde

Irma und Hansueli lernten sich an einer Hochzeit kennen, als sie 16 Jahre alt war. Sie wurden ein Paar und die Beziehung erlebte viele Auf und Abs. 1994 heirateten sie. «Meine Hoffnung war, dass mit der Heirat alles gut wird», erinnert sich Irma Stricker.

Hansueli Stricker hatte schon zwei Jahre zuvor einen Pachtbetrieb im Zürcher Oberland übernommen. Die Verpächter lebten im gleichen Haus, respektierten keine Grenzen und behandelten die Pächter wie Angestellte, die ihnen nichts recht machen konnten. «Es wurde schnell schwierig», sagt Hansueli Stricker.

Viel allein mit den Verpächtern

Das Paar bekamen drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne. Hansueli Stricker arbeitete 50 Prozent auswärts, dazu kam die viele Arbeit auf dem Hof. Irma Stricker war mit den Kindern viel auf dem Betrieb allein. «Ich fühlte mich oft als Alleinerziehende und fand meinen Platz auf dem Hof nicht.»

Immer öfter trank Hansueli Stricker über den Durst. «Ich wollte es allen recht machen, doch irgendwann ging das nicht mehr auf», sagt er über diese Zeit. Schliesslich hatte er alle paar Wochen einen Totalabsturz. «Ob es mir besonders gut oder schlecht ging: Ich fand immer einen Grund zum Trinken.» Ihr Mann sei unter Alkoholeinfluss nie aggressiv geworden, sagt seine Frau, sondern gesellig. «Aber der Alkohol veränderte seine Persönlichkeit und er ekelte mich an.»

Die Sucht heruntergespielt

War Hansueli Stricker ausgenüchtert, spielte er sein Alkoholproblem herunter oder versprach, mit Trinken aufzuhören. Es blieben leere Versprechungen und Irma Stricker fühlte sich hintergangen.

Nach neun konfliktreichen Jahren kündigten die Verpächter die Pacht. Die junge Familie fand rund fünf Kilometer weiter einen neuen Pachthof. Schwierig war, dass sie nicht auf dem Hof wohnen konnten.

«Ich arbeitete sehr viel und so hielt ich durch»

Hansueli Stricker

Irma Stricker hoffte dennoch auf einen Neuanfang. Das Absturz-Trinken ihres Mannes wandelte sich in ein Pegel-Trinken: Schon nach dem Aufstehen gab es einen verdünnten Schnaps, vor dem Frühstück dann den zweiten. Bis zum Abend war eine ganze Flasche leer, dazu kam einiges an Bier. «Ich arbeitete sehr viel und so hielt ich durch», sagt er. Er versteckte Alkohol auf dem Hof, trank heimlich. Zweimal sammelte seine Frau alle Flaschen zusammen und leerte sie aus. «Doch ich hatte das Gefühl, ich sei übergriffig», erinnert sie sich.

Eigene Geschichte aufarbeiten

Durch die traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit war Irma Stricker verunsichert, ob ihr Mann sie überhaupt liebe. «Ich klammerte mich an ihn. So musste sich Hansueli nie bemühen.» Als ein anderer Mann um sie warb, genoss sie die Beachtung. Sie begann eine Affäre. «Ich lechzte nach Liebe, die ich von meinem Mann nicht bekam. Und ich glaubte, ich sei verliebt.»

Sie gestand ihrem Mann die Affäre. Er begann, sich um Irma zu bemühen, organisierte eine Ehetherapie. «Doch es war zu spät», sagt er. «Alles prallte ab.» Die beiden entschieden sich für eine Trennung. Hansueli Stricker kaufte einen günstigen Wohnwagen und stellte ihn auf dem Betrieb auf. «So war ich bei den Kühen und der Wagen war gross genug, dass die Kinder am Wochenende kommen konnten.» «Wir haben viel geweint», sagt seine Frau. «Auch für die Kinder war es belastend.» Einzig den Wohnwagen fanden die drei «cool».

Die Reaktionen von Freunden, Nachbarn und Verwandten waren unterschiedlich: Ablehnung, Verurteilung, ungebetene Ratschläge, Kontaktabbruch, aber auch Unterstützung. «Kaum einer wusste etwas von Hansuelis Alkoholsucht, mein Seitensprung war aber schnell ein Thema», sagt Irma Stricker.

Sie begann für sich eine Therapie, beleuchtete ihre Kindheit und die Muster, die ihr Verhalten bestimmten. «Ich lernte meine eigenen Bedürfnisse kennen und mich zu trauen, diese auch auszusprechen.» Dazu gehörte, von ihrem Mann zu verlangen, dass er einen Entzug machte.

Endlich ehrliche Gespräche

Trotz der Trennung traf sich das Paar regelmässig zum Mittagessen mit den Kindern oder zu einem Kaffee. «In der Zeit sprachen wir mehr miteinander als in den Jahren davor», sagt Hansueli Stricker. Als er wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand den Ausweis für drei Monate abgeben musste, ging er zu einer Suchtpräventionsstelle. Der Therapeut riet ihm, ganz mit dem Trinken aufzuhören. «Ich wehrte ab. Denn ich befürchtete, dass ich dann nie mehr lustig sein kann.» 

Zarte Hoffungsschimmer

Die Trennung dauerte zwei Jahre, auch Hansueli Stricker hatte in dieser Zeit Aussenbeziehungen. Doch am gemeinsamen Weihnachtsfest im zweiten Jahr zeichnete sich zart eine Änderung ab. «Hansueli war nüchtern und bemühte sich um die Kinder und mich», sagt Irma Stricker. «Bei mir keimte die Idee, dass ich mir so einen Neuanfang vorstellen könnte.»

Dann zog sie an Silvester in der Freikirche, der sich das Paar seit vielen Jahren zugehörig fühlte, ein ganz besonderes Jahreslos, eine Art Leitspruch für das kommende Jahr. Es hiess: «Bleibt nicht bei der Vergangenheit stehen, schaut nach vorn. Ich will etwas Neues tun, es hat schon begonnen, habt ihr es nicht bemerkt.» «Das hat mich so getroffen», sagt Irma Stricker. «Für mich war klar: Da ist Gott am Werk.»

Entzug für sich selbst

Ein Skiwochenende mit Kollegen brachte bei Hansueli Stricker die Wende. Den 4. Februar 2008 werde er nie vergessen. «Als einer eine Runde Schnaps offerierte, sagte ich mir: Das ist mein letzter.» Er hörte von einem Tag auf den anderen ganz mit Trinken auf. «Ich machte den Alkoholentzug für mich, nicht für Irma. Sonst hätte es nicht funktioniert.» Obwohl er keine Entzugserscheinungen hatte, ging er auf Anraten seines Therapeuten einige Wochen in eine Spezialklinik. «Dort lernte ich viel über den Umgang mit Alkohol und wie er noch lange im Hirn wirkt.»

Ende Juli 2008 liess sich das Paar in der Kirche neu segnen. «Ich habe mich wieder total in meinen Mann verliebt», sagt Irma Stricker mit einem Lächeln. «Wir hatten uns zuvor dazu entschlossen, einander zu vergeben.» Das sei keine Gefühlssache gewesen, sondern ein Entscheid. Die Vergangenheit habe sie noch eine Zeit lang begleitet, doch sie habe an Kraft verloren.

«Wichtig ist, Brüche im Leben nicht unter den Teppich zu kehren.»

Irma Stricker

Die beiden möchten anderen Paaren in einer ähnlichen Situation Mut machen. Sie sprechen daher inzwischen auch in der Öffentlichkeit über ihre Geschichte, etwa in der TV-Sendung «Fenster zum Sonntag» oder in Kirchen.

Beziehung auf eine neue Art leben

Hansueli Stricker hatte bis heute keinen Rückfall und das Paar lebt die Beziehung auf eine ganz andere Art. Die Ressource «Glaube» war und ist für ihn und seine Frau essenziell. «Sonst hätten wir den Weg nicht gefunden», sagt er und fügt hinzu. «Ich habe es heute so gut wie nie. Wenn wir uns getrennt hätten, wäre nur ein Scherbenhaufen geblieben. Heute können wir reflektieren.»

«Wir unterstützen einander, leben die Sexualität anders und reden ehrlich über alles», ergänzt seine Frau. «Wichtig ist, Brüche im Leben nicht unter den Teppich zu kehren. Es kann einen Weg geben. Wenn ein erster Anlauf mit Therapie oder Beratung nicht klappt, lohnt es sich, einen zweiten Versuch zu wagen.» Beide haben gelernt: Wenn man das Gefühl hat, dass einzig der Partner das Problem ist, geht nichts. Man muss bei sich selbst anfangen.

TV-Film über Hansueli und Irma Stricker

Was ist der «trockene Januar»?

Der «Dry January», der trockene Januar, ist eine internationale Bewegung von Menschen, die im Januar auf Alkohol verzichten. Das Konzept stammt aus Grossbritannien und wird in der Schweiz unter anderem von Sucht Schweiz und dem Bundesamt für Gesundheit unterstützt.
Zu den Vorteilen eines alkoholfreien Monats gehören etwa mehr Energie, Gewichtsabnahme, Gesundheitsprävention und weniger Ausgaben. Laut einer Studie konsumieren 72 Prozent der Teilnehmenden auch sechs Monate später weniger Alkohol.
Der «Dry January» eignet sich für Menschen mit unterschiedlichem Trinkverhalten, von der Gelegenheitstrinkerin bis zu regelmässigen Alkoholkonsumenten. Für alkoholabhängige Menschen ist er nicht geeignet, sie brauchen therapeutische Unterstützung.

Weitere Informationen und App: www.dryjanuary.ch