Es sieht ein bisschen aus wie ein gestrandetes Raumschiff von einem fernen Planeten: das nach dem Fall der Berliner Mauer erstellte «Palais des droits de l’homme» in Strassburg. Juristinnen und Juristen aus 48 Unterzeichnerstaaten amten hier am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Hüter der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Verpflichtet haben sich neben den EU-Staaten auch Länder wie Aserbaidschan, die Türkei, die Ukraine und – bis 2022 – Russland. Als Beobachterstaaten fungieren unter anderem die USA, Israel und der Vatikan.

Nun verurteilt dieses Gericht die Schweiz. Ihre Klimapolitik verletze nämlich die Menschenrechte der sogenannten Klimaseniorinnen, eines unter der Ägide von Greenpeace agierenden Aktivistinnentrupps um die Basler Paarberaterin Rosmarie Wydler-Wälti. Die Menschenrechtsverletzung besteht nach Ansicht des Gerichts darin, dass die Massnahmen zur Erreichung der Klimaziele ungenügend seien.

Einst ging es um das Verbot von Folter und Sklaverei, heute um Klimamassnahmen

Das Urteil gleicht einem Dammbruch: Weitere Verfahren gegen andere Staaten dürften folgen. Und die Stimmen lauter werden, die dem EGMR vorwerfen, seine Macht für politische Zwecke zu missbrauchen.

Bei seiner Gründung 1959 hatte Europa noch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Das neue Gericht sollte die Einhaltung der 1953 in Kraft getretenen Europäischen Menschenrechtskonvention überwachen. Zu deren Kernpunkten gehörte etwa das Verbot von Folter und Sklaverei, das Recht auf ein faires Verfahren oder der Schutz vor religiöser Verfolgung. Vom Folterverbot zur Höhe der CO2-Abgaben: ein langer Weg.

Seit sie 1998 in ein ständiges Gericht mit hauptberuflichen Richterinnen und Richtern umgewandelt wurde, hat sich die Institution zusehends der «dynamischen Weiterentwicklung» des Rechts verschrieben – etwa bei Themen wie Abtreibung und Leihmutterschaft, Gender- und Gleichstellungsfragen und anderen «progressiven» Anliegen. Statt als trockene Hüter des Buchstabens scheinen sich die Berufsjuristen zunehmend als Wegbereiter einer besseren, gerechteren Welt zu sehen.

In anderen Ländern hat der EGMR nicht viel bewirkt

Gemessen an den ursprünglichen Zielen scheint die Wirkung der EGMR-Urteile nach wie vor bescheiden zu sein. Anders ist kaum zu erklären, wie Bürger aus EMRK-Mitgliedstaaten in der Schweiz Asyl erhalten können, weil ihre Menschenrechte in ihrer Heimat nicht garantiert sind. Im Gegensatz zu besagten Herkunftsländern könnte die Schweizer Politik das Urteil aber ernst nehmen und handeln wollen.

Der politische Druck, mehr zur Erreichung der Klimaziele zu tun, wird wachsen. Nicht so der Spielraum der Politik. Internationale Verträge verpflichten zu Bevölkerungswachstum, uneingeschränkter Mobilität, Freihandel mit Ländern, deren Produkte alles andere als nachhaltig produziert und transportiert werden. Ansetzen kann die Schweiz am ehesten bei der einheimischen Produktion.

Muss die Landwirtschaft alles kompensieren?

Und damit kommt die Landwirtschaft ins Spiel. Schon heute scheint die Kompensation der von der Verstädterung der Schweiz verursachten ökologischen Schäden eine ihrer Hauptaufgaben zu sein. Die Metropole Schweiz frisst immer mehr Fläche? Folglich muss die Landwirtschaft Raum für Biodiversität hergeben. Das Mittelland verschwindet unter Beton und Asphalt? Also muss mehr Kulturland her für befreite Gewässer. Hunderttausende neue Haushalte fressen immer mehr Strom? Es braucht Solaranlagen auf Alpweiden! Der stille Wald verkommt zum Naherholungsgebiet? Die Gesellschaft fordert Nationalparks, Wildnis und Wölfe in den Alpen!

Die Schweiz wird stark und schlau genug sein, mit dem Urteil aus Strassburg umzugehen. Vielleicht liegt sogar eine Chance darin: Dann, wenn nun verstärkt nach kreativen und partizipativen Lösungen gesucht wird – und nicht einfach die Kosten für die einheimische Produktion hochgefahren werden, womöglich kombiniert mit weiteren Verboten.

Den Menschenrechten wird kein Dienst erwiesen

Nachdenklich stimmen die neuen Töne aus Strassburg dennoch. Bereits liegt die Forderung nach Austritt aus der EMRK auf dem Tisch. Nicht nur in der Schweiz. Für einen grossen Teil der Bevölkerung der europäischen Länder sind die Richtersprüche aus dem Glas-Palais in Strassburg nicht mehr nachvollziehbar. Eine für Europa und die Schweiz einst wichtige Institution verliert damit weiter an Vertrauen.